Prologus,alter ego 


alter ego

   JOM! Ich bin die Jupiterstatue im Capitol, dem Tempel dercapitolinischen Trias. Natürlich nicht zwölf Meter großwie in Rom, sondern, wie die Agrippinenser das als Maß lieben, schöndas gemäßigte Fünftel davon. Ich sitze, den linken Fußvor, halte das Blitzbündel dicht am rechten Knie und habe in Extrakammernzu beiden Seiten, durch Säulenreihen abgetrennt, die Standbilder vonJuno und Minerva neben mir. Ich gucke durch die halb offene Tür undzwei sichtbaren Säulen der Vorhalle hindurch über den Südzipfelder Insel hinweg auf die Auen des anderen Rheinufers mit den unendlichenWäldern und dem dunstigen Gebirgszug dahinter.
   Immerhin etwas! Es klappt. Gucken kann ich. Ich kann alsojetzt den Augpunkt meines ovalen Blickfelds in jede beliebige Figur einpflanzenund damit in jedes Zimmer, auch jedes private, reinschauen. Klar, richtigfokussieren geht nicht, denn da, wo meine Augenbewegungen abgenommen werdenkönnten, klafft im Tauchanzug ein Loch, das auch noch Mund und Naseausspart. Ich komme mir vor wie ein Taucher, der anstelle einer Brillemit einer Lampe herumschwimmt, vor sich einen Lichtkegel, in dem die Dingewie herangezoomt erscheinen.
   Dieses Körperschemaprogramm ist vielleicht ulkig!Wie ich mir das erhofft und vorgestellt habe, hat es funktioniert, dassdie Konturwerte der Statue über ein Morphing-Modul mit meinen eigenenKonturen, von Hunderten Sensoren am Tauchanzug abgenommen, verrechnet werdenkönnen, aber woran ich nicht gedacht habe, ist, dass ich die meistenStatuen, ohne sie gleich wieder zu zerstören, ja gar nicht eindeutigauf die Daten eines menschlichen Körpers reduzieren kann. Ein paarNackte könnte ich vielleicht sauber von ihrem Sockel wegschneiden,aber Kleidung und Dinge und Tiere?
   Die Wölbungen und Einschnitte der Muskeln an Brust,Bauch und Armen kann ich gut definiert fühlen, aber eben genauso starkden Adler am Bein und die Gewandfalten, die meinen Schoss und die Schenkelwie eine übergroße Gänsehaut hochziehen und riffeln. Amhochgehaltenen linken Handballen fühlt es sich so an, als ob stattdes Zepters ein Hühnerauge schnurgerade bis zum Sockel unter meinenFüssen herunterwächst. Aus der rechten Handfläche spreizensich wie sechs weitere zackige Finger die Blitze nach oben und unten. Aberwas kann ich im Moment mehr erwarten? Ich kann sehen und ansatzweise sogaretwas spüren. Zur Sicherheit werde ich noch ein paar andere ausprobieren!
   Ich bin die Reliefgestalt der Juno, diesmal nicht derneben Jupiter im Capitol, sondern einer grob gehauenen oben auf einem sogenanntenJupiterpfeiler, unter mir Viktoria und Mars, zu meinen Seiten Venus, Vulcanusund andere. Wir stehen viereckig, die Rückseite glatt und bildlosganz knapp vor einem Wasserverteiler in der Nähe des Westtors. Vormir ein Brunnen ohne Wasser und dahinter zieht sich wie am Schnürchender breite Decumanus bis zur Rückseite des Forums.

   »Plinia?«
   »Ich höre.«
   »Plinia, du bist ein Assistenzprogramm, zu meinerUnterstützung installiert. Ich frage mich, was du alles für michtun kannst.« Sie lächelte und raffte ihr locker fallendes Brusttuchhoch, Bauch und Busen entblössend.
   »So hab ich das nicht gemeint. Tu es wieder runter.Was ich wissen will, ist, ob ich dich nur nach römischer Geschichteoder auch nach allem anderen fragen kann.«
   »Das weiß ich nicht. VersuchÕs doch einfach.«
   »Na gut. Erzähl mir mal etwas über diesogenannten Gehäuteten. Kannst du das?« Sie stand nicht auf,sondern legte bloß den Kopf schräg und schloss die Augen. Vielleichthatte sie, für mich unmerklich, meine Anfrage einem Suchprogramm aufanderer Ebene weitergegeben. Das wäre eine Möglichkeit. Sie warerstaunlich schnell und schlug gleich wieder lächelnd die Augen auf.
   »So. Der Name >Die Gehäuteten< bezieht sichinoffiziell auf einen japanischen Familienclan im Südosten Australiens,der aus drei Familien besteht, davon zwei aus altem Samuraigeschlecht.Ursprünglich wurden so nach der großen Hautvirusepidemie vorfünfzehn Jahren all die Glücklichen, oder besser gesagt, Vermögendengenannt, die es sich leisten konnten, ihre von Geschwüren rindigekranke Haut in einer langen, geduldfressenden Prozedur gegen eine neue,in Pastelltönen transparente einzutauschen. Diese verfügt nichtnur über die nötigen Thermo- und Drucksensoren, ist nicht nuratmungsaktiv und transpirationsfähig, sondern verträgt sich auchbestens mit dem empfindsamen Fett- und Muskelgewebe. Sie ist von vornhereingenerativ angelegt, mit einer Vielzahl verschiedener Rezeptoren angereichert,deren sich die Nervenenden nach Belieben bedienen können. Das, wasdiese Operationen damals zu einem wohl einmaligen Experiment werden ließ,war die Tatsache, dass diese Haut von vornherein völlig kompatibelangelegt und wie für eine virtuelle Welt geschaffen worden ist. Zweiwegigkann der eigene Leib im Rechner vollständig aufgebaut und repräsentiertwerden und gleichzeitig von diesem ein bestimmtes Reizprofil empfangen,das das überzeugende Gefühl einer anderen Gestalt suggeriert.Und das 24 Stunden am Tag und völlig kabellos, steuerbar nur mit kleinstenSpannungsveränderungen des Muskeltonus und wenigen vordefiniertenZurufen. Die Operationen wurden vor acht Jahren vollständig eingestellt,da anscheinend der Preis für die neuen Häute nicht bloßfinanziell extrem hoch war. Hochsensibel und leistungsstark, wie sie sind,zeigten sie sehr schnell ihre Hauptfehlerquelle, nämlich eine füreinen normalen Alltag untragbar hohe Schmutzanfälligkeit. Selbst kleinsteVerunreinigungen verursachen krümmende Schmerzen, werfen übergroßeBlasen und Ablösungen und reale menschliche Hautkontakte sollen Irritationen,diffuse €ngste bis hin zu regelrechten Panikattacken auslösen.«
   Ich musste jetzt einfach umschalten.
   »Halt, nur noch stichwortartig, bitte.«
   »Ja. Seit acht Jahren leben die Gehäutetenin strenger selbstauferlegter Quarantäne in einem weitläufigenBunkersystem am Fuße des Grey-Gebirges, miteinander nur überMonitore und jene von ihnen entwickelte Technologie der Digdummies verbunden.Sie stellen beim diesjährigen Sommerspiel eine neue Version von Datasuitsvor, superleicht und hocheffizient, wie im Mailing angegeben.«
   »Danke, das genügt.« Was ich mich schondie ganze Zeit fragte, war, ob ich sie nicht auf meine virtuellen Spannerausflügemitnehmen konnte.
   »Bleiben unsere Gespräche eigentlich unteruns, Plinia? Oder können die angezapft werden?«
   »Das hängt von deiner Suchanfrage ab. Das gesamteWissen der römisch-griechischen Welt habe ich immer bei mir und alles,was sich darauf bezieht, wird als reine Terminalaktion gewertet, bleibtalso auf diesem Computer. Suchanfragen wie die von vorhin gehen überweitere Suchwürmer nach draußen in andere Netze und könnennicht geheimgehalten werden. Genügt dir das?«
   »Ja, wunderbar. Ich möchte nämlich etwasversuchen.«
   Du spinnst, Oskar, du warst zu lange allein. Du fängstschon an, mit einem bloßen Programm zu reden wie ein alter Mann mitseinem Goldfisch. Ich stellte um auf reinen Audiokontakt und baute siein mein Spannerprogramm mit ein.
 
   »Plinia?«
   »Ich höre.«
   »Wer bin ich?«
   »Du bist der Mars Ultor im Tempel bei der mittlerenRheinpforte, der Merkur in dem seinen oben in der Nordostecke, bist einWeihestein mit drei Matronen drauf.«
   Herrlich. Ich fühle mich wie eine Hexe mit einemweisen Raben auf der Schulter. Ich gehe rein in eine Statue und kann Plinialeise fragen und sie antwortet mir wie eine innere Stimme, nur knapperund präziser. Das müsste mir morgen eine große Hilfe sein,denn gesehen und gehört kann ich ja nicht werden.
   Ich bin Galba und stehe im Hain oberhalb des Venustempels.Das heißt, wie Plinia mir erklärt, man hat mir nur fürvier Wochen den hageren Greisenkopf Galbas auf den athletischen Körperder typischen Kaiserstatue gesteckt, die vorher schon die Köpfe vonTiberius, Caligula, Claudius und Nero getragen hat.
   Ich bin dann so eine Art Atlas, säulentragend undblicke gelassen herunter auf die Bühne des Claudiustheaters. Zuletztbin ich ein Standbild und reite als Pferd auf Sockel mit Caesar oben drauffür immer übers Forum, gleichermaßen ein Mahnmal fürdie Stärke Roms, den Germanen eine beständige kraftstrotzendeDrohung.
   Aber nichts tut sich, nichts bewegt sich, der Himmel selbstist ein knallblaues Computernichts, der Rhein steht gewunden grünlichgrauwie glatte Plastikfolie in seinem Flussbett und glitzert nicht mal einbisschen. Nur einmal im Theater ist mir kurz, als husche ein Schatten wievon einer großen Eule über die Bühne und die Sitzreihen.Aber das kann ja schlecht sein. Ich bin doch alleine hier mit meiner kleinenFrau im Ohr.
 


Prologus,alter ego, . . . Modus operandi

Copyright © 1996 by Hartmut Zaender, Köln, Nachdruck zu ausdrücklich privaten Zwecken gestattet