alter ego . . . modus operandi, suum cuique mos 


Erster Tag

Modus operandi

 Colonia Claudia Ara Agrippinensium,
 Freitag, 30.12. 68 u.Z.

 Der beste Platz für Neuigkeiten ist das Forum. Also schaue ichda mal rein. Ich bin erneut Julius Gaius Caesar, zu Pferd in voller Feldherrnrüstungund blicke fast über den ganzen Platz in Richtung Osten, das grenzenloseGebiet. Links hinter mir weiß ich den altertümlichen Block vonTempel, um den sie in einigen Jahren diese protzigen Portiken, zwei halbkreisförmigeSäulenhallen bauen werden. Ich bin absolut sprachlos. Der Platz istgerammelt voll und es ist für mich erstmal nicht zu unterscheiden,in welcher Figur jemand drin ist und wo nicht.
   Bevor ich mich auf das verwirrende Gewimmel konzentrierenkann, werfe ich einen Blick in den dunkelgrauen Himmel, der stählerndie ockerroten Hausdächer und den hellen Stein hinterfasst, der inder ersten Morgensonne heiter glitzert.
   Auf dem Freitagsmarkt bläht sich eine Masse, dieich so niemals vermutet hätte, man sieht den Platz vor lauter Menschennicht. Wichtigtuende Dekurionen, der hiesige Senatorenersatz, ziehen Rottenvon Leuten hinter sich her wie ein Stürmer die gegnerischen Verteidiger,halt nur in der Toga. Sie alle scheinen erst einmal hier auf dem Forumreinschauen zu wollen, genau so wie ich.
   Die dickste Traube schart sich natürlich um AulusVitellius, den Statthalter, der, Plinia zufolge, seit dem ersten Dezemberin Köln ist und in ein paar Tagen zum Kaiser ausgerufen werden soll.Er überragt seine Gardisten und speichelleckende Gefolgschaft um fastden Kopf, den er stolz in der Gewissheit eines nahen Triumphs genießerischlangsam über die Menge schweifen lässt.
 

   Offiziell sind ja all die Netzwerkidentitäten, dieman sich kaufen, verdienen oder einfach gewinnen konnte, natürlichgeheim. Aber da es ausgerechnet der an Gestalt unscheinbare, aber überausquirlige Nobis-Chef Paul Tilling war, der durchgesetzt hatte, dass diesmaldie Vergabe an Köln fiel und nicht an Pompeji wie in den vier Jahrenzuvor, darf wohl niemand bezweifeln, dass nur er und sonst keiner in derGestalt des Vitellius stecken kann.
   Er will mit seiner Firma die neuesten Updates seiner luxuriösenCybertanks vorstellen und auf dem Markt etablieren, in denen man nichtnur bequem pinkeln, sondern sogar riechen und schmecken können soll.Es ist außerdem bekannt, dass sein Großvater der Karnevalsgesellschaft»De fidele Kaiserföttsche« angehört und Tilling sichdeshalb für das berüchtigte Vierkaiserjahr mit Vitellius entschiedenhat, zum einen, weil durch Tacitus genügend Schriftliches darüberauf uns gekommen ist und manche sowohl ihn wie auch den geistigen Vatermeiner kleinen Assistentin, Plinius nämlich am liebsten in den fünfzigerJahren in Köln sehen wollten. Zum anderen wurde hier erstmals einerin dieser Provinzstadt zum Kaiser ausgerufen und das war doch schon was.
   Es müssen beinah alle Sommerspieltouristen hier sein,als herumstehende oder flanierende Reisende und Händler, als Familien,Marktschreier oder Budenbetreiber mit Töpferwaren, Nippes, Leckereienund anderem.
   Ich weiß, dass ein Großteil der Gestaltenzwischen mir und dem Osttor des Forums, durch das noch Teile der Kurie,dem Ratsgebäude auf der anderen Seite des Cardo, durchlugen, sogenannteSelbstläufer sind, aufwendige und vollgepackte Programme mit klardefinierter Identität, wahrscheinlichem Tagesablauf, sogar eingebautemWortschatz und interaktiver Kontaktfähigkeit.
   Das heißt, man kann mit ihnen ein bisschen redenund sie sogar anpacken. Mit diesen Fähigkeiten gehören sie zuden vielen, vielen Update-Neuheiten in diesem Jahr. Mit allem übrigenaußer den steuerbaren Identitäten haben sie gemeinsam, dasssie solange im Sparmodus dahindümpeln, bis sie jemand fokussiert,anspricht oder berührt. Dann schnellt ihre Auflösung in die Höhe,werden ihre Aktionsschleifen initialisiert und die differenzierten Responsemodulebereitgestellt.
   Auf den allerersten Blick aber sehen alle Leute fürmich genau gleich aus. Das werde ich wohl zunächst lernen müssen,sie ordentlich zu unterscheiden. Aber wie sollte dies auch anders sein.Ich habe keinerlei Erfahrung im Umgang mit virtuellen Welten. Sicher, inmeiner Kindheit habe ich auch mal in einer dieser runden Spielhöllenkonsolengestanden, einen unförmigen Helm auf dem Kopf, einen dicken Datagloveals Handschuh um eine Maschinengewehr aus Plastik geschlungen und durftein verwirrenden und knallbunten Cyberräumen jemanden abballern, dersich auch da herumtrieb. Aber meistens bin ich auf der Strecke geblieben,entweder, weil mir die dafür nötige Fitness oder der sogenannteKillerinstinkt fehlte oder weil mir das alles absolut keinen Spaßmachte. Vielleicht hatte ich aber auch deshalb nie Gefallen daran gefunden,weil ich einfach zu langsam und bedächtig war.
   Und dann diese ewigen Quasselbuden von Chatforen, in denensich hinter hochstapelnden Phantasienamen meist nur Langweiler mit ihrentausend Belanglosigkeiten verbargen. In Wahrheit habe ich die ganzen Netzeund Cyberräume aber wohl auch deshalb gemieden, weil ich mich nichtmit Haut und Haaren all den Profiljägern ausliefern wollte, die mitspeziellen Suchprogrammen in Windeseile die Netze durchstöbern, jededeiner Aktivitäten aufzeichnen und dann sofort dein ganz persönlichesAktionsprofil abrufen können. So bist du auf Gedeih und Verderb denKonzernen und der Regierung ausgeliefert. Deshalb kenne ich mich mit denGepflogenheiten virtueller Welten kaum aus. Aber heute hier, bei diesemSommerspiel, kommen die meines Wissens nach nicht rein. Exklusivitätkann schon etwas Feines sein.
 

   Vitellius mit seinen Leuten nähert sich mir und willwohl jetzt das Forum westwärts verlassen und sich die Stadt anguckenwie so viele andere auch. Er schaut kurz zu mir herauf, bevor er aus meinemBlickfeld wegtaucht.
   Eine große, kräftige Chattin mit hohen Wangenknochenund goldblonder Löwenmähne fällt mir auf, die mit ihrerernsten Haltung so gar nicht zu dem hochtrabenden und wild gestikulierendenFigurenpulk passen will, der sich hier in Szene setzt. Einer von denenbleibt etwas zurück, während die anderen mich schlaksig passieren,grinst mich an und paro-diert eine Anbetungsgeste.
   Meint der jetzt Caesar oder mich?
   Er zieht sich leicht an meinem Pferd hoch und flüstertmir leise zu:
   »Hey. Ich soll dir schöne Grüsse bestellen,Oskar!«
   Wäre ich nicht aus Stein, ich wäre sicher rotgeworden.
 

   Es verläuft sich, der Platz wird wieder sichtbar,links die Basilika, der Saum aus Standbildern, die beiden großenKlötze kurz vorm Cardo, schmucklos und wie hingewürfelt. DieLeute werden jetzt rumlaufen durch die Straßen und über dieanderen Plätze und sich dann irgendwo drinnen umtun. Da ich nichtspazierengehen kann, werde ich mir auch eine Innenfigur suchen, ein Standbildaus einem Garten oder aus der Ahnengalerie oder ähnliches.
 

   Ich bin ein schwarzer Merkur und stehe auf einem Bein inder Mitte eines geräumigen Atriumhofes. Der Geldbeutel in meiner Handsollte mir eigentlich Glück bringen. Die Optik habe ich mehr in RichtungFischauge gestellt, dadurch ist alles mittig ein wenig gebogen, aber dasGesichtsfeld ist bedeutend größer. Über mir höre ichein ganz leises Klacken auf den roten Ziegeldächern und ein kleiner,dunkler Punkt erscheint am Rande des Compluviums. Es muss ein Vogel sein,der da abwechselnd mit je einem Auge herunterspäht und wahrscheinlichüberprüft, ob unten ein Hund oder eine Katze oder sonst jemandist. Als die Gestalt sich flatternd zu dem Mosaik hin fallen lässt,das dunkel, verschlungen und kalt um die vier Säulen herum liegt undnoch von keinem Morgenstrahl berührt ist, erkenne ich einen Spatz.
   Er tappelt über verschiedene Tauben aus glitzerndengrauweissen Steinchen und springt zu mir ins Impluvium, das noch einenölig schimmernden Rest Regenwasser enthält. Er schlägt seinGefieder, bald rechts, bald links ins Wasser, trinkt ein paar Schlückchenund plustert sich.
   Der Durchgang zum Garten ist gegen die Kälte zu beidenSeiten mit schweren, dunkelgrünen Vorhängen bewehrt, die derWind manchmal träge einen Spalt breit zur Seite schiebt. Der Spatzfliegt zu kleinen Löchern über den Stangen und schaut in dasgroßzügig angelegte Peristyl, vollgestellt mit Statuen, Hermenund hohen Steinvasen mit ausgetrockneten Blumen des letzten Sommers.
   Der Vorhang unter ihm bauscht sich mit einem Luftzug undein germanischer Sklave in einem rauhbraunen Wollumhang trägt einKohlebecken in eins der Esszimmer, dem bereits behagliche Wärme zuentströmen scheint, der flirrenden Luft nach zu urteilen. Der Spatzfliegt leicht erschreckt hoch zum Garten hinaus und ich bin ein bisschenneidisch und dennoch begeistert über seine Bewegungsfreiheit.
   Das Wunderbare ist ja, dass niemand im Augenblick einegenaue Vorstellung vom wirklichen Zustand der Stadt hat. Im Gegensatz zuden Spielen von Pompeji wurden diesmal nicht die schon bekannten Datenhochgerechnet, die wären für Köln eh zu dürftig gewesen,sondern es kamen zum ersten Mal rein digitale Rekonstruktionen zum Einsatz,in die alle früheren Befunde eingerechnet wurden. Als sie diesmalmit den soften Technologien die Erde durchgescannt haben, wurde erstmalssichtbar, was die jüngste Entwicklung der Gestalterkennungsprogrammezu leisten vermochte. Es war damit möglich, kleinste einzelne Steinezu lokalisieren, nach bekannten Konstruktionsplänen selbst verputzteWände hochzurechnen, ja ganze Wandmalereien neu erstrahlen zu lassen.Natürlich nur im Verbund mit Modulen, die die Zerfallswerte von Farbpartikelnwieder zurückrechnen, Fehlstellen nach Wahrscheinlichkeiten ersetzenoder die Dynamik chemischer und mineralogischer Verbindungen so zuordnenkonnten, dass einzelne Bauphasen unterscheidbar und sichtbar wurden. Aufjeden Fall hatte keiner, auch wenn er bis zur Erschöpfung daran mitgearbeitethat, einen vollständigen Überblick über das tatsächlicheAussehen von Köln, wird ihn wohl auch nie bekommen. Bis gestern hießes ja immer nur für alle: input, input, input und bis auf wenige Detailsdürfte heute für jeden alles frisch und wie eben erst gebautsein.
   Merkwürdig, denke ich, gerade die Tatsache, dassalles hier künstlich ist, aber doch neu wie eine unverhofft aufgefundenealte Schatztruhe und so voller Menschen, macht diese Welt aufregend frischund auf eine seltsame Weise echt. Alles ist so weitläufig und großund im Vergleich zu dem, was ich bisher kenne, eher eine Sinfonie als einintimes Kammerspiel.
 

   Ich bin die Büste des Germanicus und stehe auf einemPfeiler in einem Durchgang des Praetoriums, oben im ersten Stock. Mir direktgegenüber ist ein Fenster mit Blick auf die Anlegestelle drübenauf der anderen Rheinseite, neben dem Fenster zieht sich galerieartig entlangder Wand eine ganze Reihe von Hermen und Büsten, wohl allesamt Statthalter.
   »Plinia?«
   »Ich höre.«
   »Du hast doch ein Bildarchiv. Wer ist das alles?«
   »Uns gegenüber sind nur Statthalter aus derZeit nach der Teilung Germaniens in die Bereiche Inferior und Superior.Ich erkenne da vorne links den Volterraner Caecina Severus, den Viselliusund den Gabinius, der hier riesig gefeiert wurde, hatte er doch nach einemKampf gegen die Chauken den letzten Legionsadler aus der Varusschlachtzurückgebracht. Der daneben ist mir unbekannt, aber dann kommt DomitiusCorbulo, von dem heute noch einige Veteranen ehrerbietig stöhnen sollen,weil er anfangs der vierziger Jahre, nachdem Claudius ihn auf diese Rheinseitezurückgepfiffen hat, seine Soldaten den Rhein-Maaskanal hat bauenlassen, immerhin fast 40 Kilometer.«
   »Danke, das genügt.«
   Neben mir dürften demnach die früheren Oberbefehlshaberstehen, aber sehen kann ich sie ebensowenig wie die restlichen Statthalter,die sich meinem Blick entziehen.
   Eine Frau schiebt sich in mein Blickfeld, eine recht üppigeRömerin, vielleicht Mitte dreissig, die Haare kunstvoll aufgestecktmit schwarzblauen Locken auf den weissen Schultern. Sie glaubt sich allein,schaut wie ich vorhin zum Fenster heraus, geht unschlüssig langsamumher und besieht sich bald diesen, bald jenen Kopf. Mir wird ganz komisch,wie sie schliesslich direkt vor mir steht und mich mit tiefschwarzen, aberkalten Augen mustert. Ein Spanner wie ich will zwar alles sehen, aber nichtselber angeguckt werden. So automatisch wie überflüssig halteich den Atem an.
   Ich höre von rechts aus der Tiefe des Flurs Schritte.Geräuschlos und plötzlich ist die Römerin weg. Ich kannVitellius identifizieren, an seinem schwerfälligen Hinken gut erkennbar.Bei ihm in voller Rüstung, den Helm unterm Arm, ein energisch dreinblickenderLegat, Fabius Valens von der ersten Legion in Bonn, wie Plinia mir erkärt.Er macht Vitellius auf mich aufmerksam und meint:
   »Schau dir zum Beispiel den Germanicus an, Aulus.Seine uneigennützige Treue ist ihm zum Verhängnis geworden. ImKonsulat des Sextus Pompejus und Appulejus (14 u.Z.), dem Todesjahr desAugustus, wollten ihn die meuternden Soldaten hier schon zum Kaiser ausrufen.Das wäre doch für das Volk und den Senat die Erfüllung gewesen.Er galt als großartiger Feldherr, war jung und beliebt, die ältereAgrippina hatte ihm schon einige Kinder geboren, aber er musste sich jafatalerweise seinem Adoptivvater, dem finsteren Tiberius verpflichtet fühlen.«
   »Ich weiß, ich weiß, meine Familie warder seinen stets sehr verbunden, mein Onkel Publius hatte ihn hierher begleitet.«
   Man hätte meinen können, die beiden seien Selbstläufer,so perfekt beherrschten sie ihre Identitäten. Hier ein ehrgeizigerund durchtriebener Legionskommandant, der fette Beute riecht und deshalbVitellius zum Kaiser pushen will und dort ein verlebter, zögerlicherFresssack, dem sich plötzlich und unverhofft ein Wolf in den Weg stelltund der sich blitzschnell überlegen muss, ob er ihn am Ohr packenkann oder nicht.
   »Anstatt unter die Soldaten zu springen und sichwie in einer billigen Schmierenkomödie das Schwert an den Hals zusetzen, um die Legionen auf Tiberius einzuschwören, hätte erdessen grausame Herrschaft besser gleich zu Beginn verhindert. Dann wäreRom und dem ganzen Reich eine Menge erspart geblieben.«
   »Das kannst du ruhig laut sagen«, nickt Vitelliusgedankenverloren, »wenn ich so an meine Jugendjahre auf Capri denke.«
   »Plinia, was war auf Capri?«, frage ich flüsterndin Gedanken.
   »Tiberius litt unter Neurodermitis und hatte sichdort auf seinen Alterslandsitz zurückgezogen und anderen die Regierungsgeschäfteüberlassen. Er war fast ständig betrunken und dachte sich immerneue und abartigere Spiele für die süße Schar von Jungenund Mädchen aus, die immer jünger werden mussten, je älterer selbst wurde, bis er zum Schluss bei Säuglingen angelangt war.Es heißt, Vitellius gehörte eine Weile deshalb zu diesem Kreis,damit sein Vater nicht vorzeitig von der Karriereleiter fiel und hatteaus dieser Zeit den Spitznamen Spintria weg: Hurenbock.«
   Es war nicht einfach, in diesem Mittfünfziger mitseiner roten Säufernase und den Triefaugen noch einen schönenLustknaben zu entdecken, der er demnach früher gewesen sein muss.Sein Mund war pausenlos in Bewegung, mal zu einem kleinen Schlitz verkniffen,dann wieder gierig weit aufklappend. In dem Kreis um Tiberius hatte derwohl seine persönliche Lektion fürs Leben gelernt: »Wenndu dich im Dunstkreis der Macht aufhalten willst, darfst du nicht zimperlichsein und musst deinen Hintern immer dem Richtigen hinstrecken!«
   »Schau, Aulus«, fuhr der Legat fort und beschriebmit der freien Hand einen weitausgreifenden Bogen. »Dein Vater Luciuswar doch dreimal Konsul, war Zensor und Priester und hat uns allen einbleibendes Andenken an seine großen Verdienste um Rom hinterlassen.Dies und die Tatsache, dass du das Soldatenleben wie kaum einer kennst,bei allen beliebt und hoch geachtet bist, sollte dich nun wirklich ermutigen,es jetzt besser als Germanicus zu machen.«
   »Ich bin mir nicht ganz sicher. In vielem, guterFabius, hast du sicher recht. Mein Vater war damals an der Anklageschriftgegen diesen Piso beteiligt, den Tiberius unserem Germanicus nach Syrienhinterhergehetzt hat, um ihm die Hölle heiß zu machen. Fürunsere Familie bestand nie ein Zweifel, dass der ihn dort vergiftet hatund wir wussten auch genau, wer dahinterstand. Aber selbst, wenn dieserBrief, den Piso besessen haben soll und der Tiberius so schwer belastethätte, ans Tageslicht gekommen wäre, was hätte das schongenützt. Germanicus war nun mal tot und damit die Hoffnung von sehrvielen begraben.«
   »Aber jetzt sind die Karten neu gemischt, Aulus.Ich weiß mit Bestimmtheit, dass die beiden Legionen in Mainz, dieVierte und die Zweiundzwanzigste unruhig und stinksauer auf den KaiserGalba sind. Deinen Amtskollegen da in Obergermanien, diesen TattergreisFlaccus nimmt doch keiner ernst. Wir sollten mal abwarten, was da passiertund uns auf jeden Fall bereithalten.«
   Vitellius nickt bloß und bringt den Valens nochbis zur Treppe. Er wartet einige Augenblicke, reibt sich die Hüfteund das Doppelkinn und eilt dann auch die Treppe hinunter, sicher in dieKüche.
   Ich bin mehr als zuvor überzeugt, dass Tilling vonder Firma Nobis in Vitellius steckt, so täuschend echt, wie er dieseRolle spielt. Tilling gilt als ausgesprochener Perfektionist, der alles,was er anfasst, mit äußerster Präzision und Aufmerksamkeitbehandelt.
   Außerdem verfügt er über diese neuen Tanks,in denen man nackt in einer körperwarmen Metalllösung schwimmt,die alle digitalen Reize direkt an die Haut weitergibt und wo man diesensuperleichten Helm aufhat, mit dem man nicht bloß räumlich sehenund hören, sondern sogar riechen und schmecken kann. Dazu hat manzwei Schläuche in der Nase, durch die sowohl Atemluft wie auch feinsteDuftstoffe strömen können. Der Clou ist zweifellos der Gustogag,hochelastisch und hauchfein perforiert. Ihn schiebt man sich wie ein Teesiebbis ans Zungenende in den Mund. Durch die feinen Poren, durch die sichbequem atmen lässt, treten Geschmacksstoffe aus und obwohl das Siebaus einer Metallverbindung besteht, spürt man es kaum. Von außenist es in jede beliebige Form steuerbar, das heißt, wenn du in dervirtuellen Welt ein Hähnchen isst, dann schmeckst du es nicht einfachnur, sondern sollst sogar die knusprige Haut vom weißen Fleisch undden Knochen unterscheiden können.
   Die Frau von vorhin ist wieder da und steht am Treppenabsatz.Ihre fleischige Hand, zu voll behangen mit dicken Ringen und übereinanderklirrendenArmreifen lehnt lässig an der Wand, während sie mit geneigtemKopf in die Stille des Treppenhauses lauscht. Sie scheint unschlüssig,folgt Vitellius aber nach einer Weile die Stufen hinunter.
   Ich denke, ich schalte mal um auf eine Figur im Triclinium.Ich bin neugierig, ob ich recht habe und auch dieser Vitellius seinem schlechtenRuhm als Vielfraß wirklich gerecht wird, der ja laut Legende selbstlauwarme Fleischreste auf Straßenaltären nicht verschmähthaben soll.
 


alter ego . . . modus operandi, suum cuique mos

Copyright © 1996 by Hartmut Zaender, Köln, Nachdruck zu ausdrücklich privaten Zwecken gestattet