Prologus, alter ego 


Vor den Tagen


Prologus

   Fumiko Kohno blickte hoch zur Decke, über der siemehr als zwanzig Meter von diesem harten australischen Wüstenfelswusste. Sie war allein, wie sie immer allein war in ihrer selbsterwähltenQuarantäne. Ihre weitläufige Wohnung war schon mehr eine eigeneSuite, mehrere Räume einfach in den Fels gehauen, die Frässpurenan Decken und Wänden als unruhiges, aber lebendiges Muster belassen.Mit den anderen Mitgliedern ihres Clans verbunden war sie nur übereine Vielzahl von Monitoren und jene von ihnen eigens entwickelte Technologieder Digdummies.  Ausserhalb des Bunkers, den sie nicht verlassen konnten,wurden sie nur die >Gehäuteten< genannt.
   Sie stand da in ihrer transparenten, adrig glänzendenKunsthaut mitten im Raum und wartete darauf, dass ihr Digdummy sich endlichrührte.
   »Jasuiro?« fragte sie mehrfach.
   Dieser Digdummy war ein lebensgrosser weicher Roboter,der eine vergleichbare Kunsthaut wie sie selbst besaß und, von jemandanderem steuerbar, ihre einzige Möglichkeit darstellte für zwischenmenschlicheKontakte, die übers bloße Hören und Sehen hinausgingen.Er saß bewegungslos im Lotossitz vor dem Durchgang zum zwölfTatami grossen Aktionsraum und verharrte unbeseelt.
   Jasuiro gehörte zu den zwei Hauptfreunden, denenFumiko erlaubte, ihren Digdummy zu steuern. Mit ihm pflegte sie einen sehrvertraulichen, doch meist platonischen Kontakt. Im Aktionsraum nebenanübten sie sich in der Teezeremonie, malten gemeinsam oder genossen,in Stille meditierend die Gegenwart des anderen. Toshiro dagegen war mehrfürs Wilde und Pralle zuständig. Für Schwertkampf und Bogenschiessen,fürs Laufen und Herumtollen in einer digitalen Fantasielandschaftund für das immer wieder schöne Spiel von »Wind und Wolken«.
   Fumiko war nach Nähe jetzt zumute, nach Anwesenheiteines Vertrauten, damit sie ihre schon zur Gewohnheit gewordene Erregungein wenig dämpfen konnte. Sie fieberte dem diesjährigen Sommerspiel»Vitellius« schon seit Monaten entgegen. Zum einen gehörtesie zu der Mannschaft, die diesen neuen Datasuit entwickelt hat, der, aufder Basis ihrer eigenen Haut- und Kunsthauterfahrungen erstmalig als Prototypvorgestellt und an potentielle Abnehmer ausgeliehen wurde. Als hoch innovativeSpezialisten waren sie zwar alle schon länger im Computergeschäft,aber der Höhlenbunker mit seinem ausgeklügelten Versorgungssys-temwar teuer und neues Geld war nicht nur lebenswichtig, sondern musste unaufhörlichfliessen.
   Was sie diesmal zusätzlich erregte, war die Aussichtauf neue Begegnungen, auf die Freiheit, sich in verschiedenen Gestaltenins Spiel zu werfen und vielleicht Abenteuer zu erleben, die ihr eintönigesMonadendasein wenigstens für kurze Zeit vergessen machen könnten.Es war Fumiko eine stetige traurige Gewissheit, dass sie nur ein wandelndesInterface war, eine Schnittstelle zwischen einer auf Gefängnismaßereduzierten Realwelt, in der das Gefühl, dass einem die Felsdeckeauf den Kopf falle, schon längst Dauerzustand war und den möglichenvirtuellen Welten. Fumiko war natürlich normale Bewohnerin von Cyber-Tokio,in einer ganzen Reihe von Chatforen zuhause und kannte eine Menge Leute.Aber meist waren das wegen des enormen Datenaufwands nur ganz kleine Phantasieräumeoder simulierte Landschaftsausschnitte, wo man sich aus Kostengründenimmer nur für kurze Zeit einloggen konnte. Ihr Lieblingsplatz wareine Wiese im Lo-Han-Gebirge, von einer alten Weide überschattet unddirekt gegenüber von dem riesigen donnernden Wasserfall, der selbstüber einen tiefen Abgrund hinweg noch seine Tröpfchenfontänenherüberwarf. Manchmal saß da dieser alte Chinese, der nie sprach.Er spielte dann versunken auf der Cheng, einer uralten Zither auf MetallsaitenMelodien, die einen ins tröstende Vergessen führen konnten.
   Doch diese grossen Sommerspiele waren immer ein Highlight.In ihnen gab es Städte und Landschaften ganz anderer Art und auchnicht immer dieselben Cyberfreaks, die man meistens schon kannte, sondernunglaublich viele und neue. Deshalb wollte Fumiko auch diesmal wieder unbedingtda-beisein, hatte sich noch zusätzlich einem meteorologischen Projektangeschlossen, über Monate richtig reingekniet und an einem Programmmitgearbeitet, das in der Lage war, innerhalb historisch gesicherter, aberauch bloss wahrscheinlicher Parameter jedes mögliche Wetter zu generieren.
   Hauptproblem wie überall war die Reduzierung derungeheuren Datenmengen. Sie konnte jedoch ganz zufrieden sein. Herausgekommenist ein äußerst sparsames Hintergrundprogramm, das nur im Bedarfsfallhochauflösende Einzelheiten erzeugte.
   Fumikos persönliche Spezialität waren zufallsgesteuerteGewitterabfolgen und sie hoffte natürlich auf deren Einsatz. Das konntefrühestens erst ab dem offiziellen Spielbeginn, also ab morgen derFall sein, aber heute konnte man sich ja schon mal den Ort des Geschehensangucken.
   Als Schleiereule beamte sie sich ins virtuelle römischeKöln und flog in majestätischem Schwung vom Leuchtturm aus durchdie Straßen, hinweg über die Tempel, den Cardo, die Wohninselnund Plätze, durchs Theater. Die nackte Architektur war irgendwie gespenstisch.Nichts als diese und das zweite Volk der Steinplastiken.

  Kölnin ein paar Jahren im Büro einergroßen
  Computerfirma

  Auf meinen vier Monitoren drehten sich silbrig die fertigen Statuenaus der letzten Zeit, Marcus Vipsanius Agrippa zum Beispiel, der mir rechtgelungen schien und diese Juno, ziemlich lasziv gefältelt. Füreinen kurzen Moment breitete sich impulslose Leere in meinem Kopf aus undein Monitor nach dem anderen schaltete um auf den neuesten Schoner vonAl, der sich wie ein Newstext durch alle Fenster fraß:
   >God save the screen!<
   Hm, allmählich begann mich diese allgemeine Einmischereizu ärgern. Alle schienen anzunehmen, dass ich nichts besseres zu tunhätte, als irgendeinen illegalen Weg zu suchen, wie ich diese Direktive,nur zuzugucken, umgehen und doch am Spiel teilnehmen könnte.
   Was natürlich haargenau stimmte!
   Wochenlang hatte ich mir überlegt, wie ich das anstellensollte, doch langsam musste ich mir wohl darüber hinaus ernsthafteGedanken machen, dass ich nicht sofort aufflog. Auf jeden Fall hatte ichjetzt erstmal ein schönes kleines Spannerprogramm, wie ich das nannte.Es blieb natürlich noch die Frage, ob der Trick überhaupt funktionierenwürde.
   Es gab ja diese offiziellen Zuschauerprogramme fürGäste, also Nicht-Club-Mitglieder, die es ihnen erlaubte, sich aufden Straßen, Plätzen und in den Tempeln umzugucken, ohne eingreifenzu können. Dazu hatte man ein ganzes Bündel feststehender Blickpunkteeingerichtet, die sogenannten >Points de vue<, die ein vordefiniertesBlickfeld öffneten und von wo aus man sich die Stadt und ihre Passantenansehen konnte. Diese normalen Aussichtspunkte hatten sie uns genauso zugänglichgemacht wie jedem x-beliebigen Zu-schauer, der sein Sommerloch zahlendvor einem Monitor zubringen wollte. Aber das war natürlich nur inetwa so aufregend wie ein sonntäglicher Ausflug in die Videozentraleder Verkehrsüberwachung.
   Sicher, alles Öffentliche war auch für uns erreichbar. . . das Forum, die Straßen, die Theater und der Circus, das Rhein-uferund ein paar Kilometer Gegend rund um CCAA, aber das Eigentliche . . .
   Wenn wir wollten, konnten wir das alles in das runde Sammelbüroladen auf den 3D-Monitor, der sich von Höhe Tischkante bis direktunter die Decke um den halben Raum bog. Wir konnten zum Beispiel alleinauf einen der Plätze gucken, aber auch unzählige weitere kleineFensterchen aufmachen und das sah dann aus wie ein übervoller Weihnachtskalender.In der Mitte, quer zum Bildschirm, stand der ovale Tisch mit den vier Arbeitsplätzen,die sich die vier Frauen gekrallt hatten, Wendy, Lydia, Billa und Coco,im Halbkreis dahinter dann, durch ein Podest leicht erhöht, der Männertisch.
  Jeder hatte einen kleinen Zwischenmonitor, elegant in die Tischplatteeingelassen, machte das meiste aber mit der Fernbedienung auf dem grossenSchirm. Ausser Al und Didier, die benutzten schon mal die neuen Fokusverstärker,die wie nostalgische Sonnenbrillen aus den 70ern aussahen.
   Hier wurden die Figuren vorgestellt, die jeder in seinemeigenen kleinen Kabäuschen hinterm Flur rund um den Sammelraum anden Extracomputern entwickelt und hergestellt hat. Hier wurden sie diskutiertund mit den anderen aufeinander abgestimmt. Programmbausteine konnten getauschtwerden, die fertigen Ergebnisse der anderen Entwicklungsabteilungen kamenunvermeidlich wie dpa-Meldungen laufend auf den Schirm, rechts oben indie Ecke in die Galerie aus Miniaturwindows. Bei Bedarf konnten wir sofortauf Konferenzmodus umschalten und mit den Kollegen verhandeln.
   Nun, ich hatte diese Koordinaten und ebenso die der miranvertrauten Statuenprogramme. Ich hatte dies nur mit einem richtigen Körperschemaprogrammund einem Morphing-Modul in Einklang zu bringen und an meinen steinaltenSensor-Tauchanzug anzuschliessen, dann würde ich zwar gehörigschwitzen müssen, aber hätte eine Art Datasuit und würdeimmerhin an alle Punkte im Netz kommen können und nicht bloßan die offiziellen. Zumindest überall dahin, wo eine Statue stand,und wo stand schon keine? Vorausgesetzt, alles klappte und der Tauchanzugfiel nicht vor lauter Morschheit auseinander.
   Das Ganze hatte ich mir so gedacht: Ich kam ja nicht nuran meine eigenen mehr als 400 virtuellen Figuren, sondern auch an die meinerneun Kollegen dran. Insgesamt sind bis jetzt an die 5.000 von den Dingernim Netz fest installiert. Es hat uns zwei Jahre Arbeit am Rechner gekostet,immer in Abstimmung mit den Architekten und den Planern von der Kulturabteilung.
   Das reichte von den großen Tempelbildern wie beispielsweiseder Jupiterstatue unten im Capitol über die Reiterstandbilder vonCaesar und Agrippa auf dem Forum über all die einfachen Plastiken,Gemmen und Büsten an den Straßenecken, in den Atrien, Peristylenund Gärten bis hin zu den kleinen Laren in den Hausaltären oderden Köpfen, die auf den Gemüse- und Fleischmärkten als Gewichtedienten. Dazu kam noch eine Unmenge an Grabsteinen und Denkmälern.Das meiste waren Kopien von bekannten Werken aus Pompeji, Rom oder Herculaneum,soweit nicht eindeutig als ein Original von hier belegt, aber es gab auchwelche bei uns, die ihre eigenen Phantasiefiguren oder Statuen irgendwountergebracht hatten.

  Natürlich wollten wir alle ins Netz, auch wenn das bishernoch keiner zugeben wollte. Niemand will sich auf Dauer nur umgucken, sondernauch richtig mal amüsieren, aber die wenigen echten Cyberprogramme,mit denen man sich selbst in vorprogrammierten historischen Identitätenbewegen, tasten, riechen und sogar schmecken konnte, waren den großenTieren vom Bund, vom Land, von den beteiligten Computerfirmen, den Serviceunternehmenund ihren terabyteschweren Spezis vorbehalten.
   Schweinerei das!
   Morgen sollte es endlich ernst werden. Morgen sollte dasdiesjährige Cyberspace-Sommerspiel anfangen, die exklusive Vernetzungvon inzwischen fast 500 Riesenrechnern, die bei den großen Herstellerfirmen,dem Militär, den kommerziellen Providern mit all ihren Servern undin einigen Forschungslabors standen, davon allein schon fünfzig miteiner Mindestleistung von 300 Teraflop.
   Morgen sollte zum erstenmal das antike römische Kölnals virtuelle Stadt für vier Wochen im Netz sein. Nicht als die Lightversion,die sich inzwischen fast jede mittelgrosse Stadt leistet mit ihren kleinenDummies, Chatforen und Einkaufspassagen, wo die Leute am Ende nichts andereshaben als eine unerwünschte Banküberwachung und einen riesigenBriefkasten, vollgestopft mit schlecht gemachter Reklame. Nein, dies sollteeine dieser seltenen Vollblutversionen sein, wo man in Lebensgrösse,quasi mit Leib und Seele herumlaufen und mit anderen in richtigen Kontakttreten konnte.
   Doch noch drehte sich das virtuelle CCAA leblos und behäbigwie ein Bildschirmschoner als reine Architektursimulation auf dem Schirm,ohne dass ein Baum raschelte, eine Welle sich kräuselte, ein Menschzu finden wäre. Im Moment sah man von der anderen Rheinseite überdie langgestreckte Insel hinweg, auf der noch ein Holzgerüst von einemvergangenen Boxkampf stand, linkerhand den mächtigen, vierzehn Meterhohen Leuchtturm, daneben hinter einem Dutzend Schiffen die großeLücke in der Stadtmauer mit den vielen Baukränen und der leichtenAufschüttung vor dem Anstieg zum Capitol.
   Heute um sieben war deadline. Wir waren ja alle durch,aber ich gab halt vor, ich müsse noch dringende Korrekturen in denThermen vornehmen. Es war halb sechs und ich zog mich in mein muffigesKabuff zurück.
   Nachher, wenn die anderen zum Sektempfang beim Chef wegsein würden, wollte ich meine Idee ausprobieren, den Taucheranzuganziehen und mit dem Rechner verbinden, seine überall verteilten Sensorenmit dem Körperschema von irgendeiner Statue in Einklang bringen undkongruent verrechnen lassen. Ich müsste dann mit dem Fokus des dazugeschaltetenAussichtsprogramms an einen bestimmten Punkt in der virtuellen Welt kommen,der mir das Blickfeld einer beliebigen Statue eröffnen sollte.

   »Na, Al? Was ist denn los?« Es tat schon gut,nach Tagen des Vergrabenseins vor dem Compi wieder jemanden zu hören.
   »Hi, Oskar. Und, wie weit bist du? Fertig mit deinerArbeit? Willst du dich nicht auch mal ein bisschen zurücklehnen?«Ich hatte noch Skrupel, ihm gleich alles zu erzählen. Das mit demSpannerprogramm noch nicht.
   »€h, so gut wie, nur an den knubbeligen Atlantenin den Agrippathermen muss ich noch was glätten«, log ich.
   Er hatte anscheinend weniger Bedenken, die Katze aus demBusch zu lassen.
   »Ich glaub, ich habe da etwas für dich. Ichhab dir doch erzählt, dass ich vor ein paar Wochen in Karlsruhe warbei diesem emeritierten Mediziner. Das ist der, der früher diesesProjekt mit den Selbstläufern betreut hat. Also - aber das bleibtunter uns - als der mal kurz weg musste, hab ich mir das Paket, das dergerade drauf hatte, blitzschnell auf meinen eigenen Rechner rübergeschickt.Was das genau war, konnte ich natürlich so schnell nicht sehen, aberes ging irgendwie um kleinere Forschungsprojekte mit diesen Selbstläufern,medizinische Fragestellungen zur Feinmotorik, zum Wärmeaustausch,zur kybernetischen Steuerung und so. Ich war mir einfach sicher, dass ichdas für unser Sommerspiel nochmal brauchen könnte. Ich bin geradedabei, mir daraus etwas ganz Feines zu basteln, was, das erzähl ichdir aber noch später, wennÕs wasserdicht ist.«
   »Hm.« Immer hatte er solch ausgefallene Ideen,man konnte wirklich neidisch werden.
   »Noch ewas, Oskar, du hast mir doch gesagt, wiees dich nervt, kein Latein zu können und keine Ahnung von römischerGeschichte zu haben, oder?«
   »Allerdings, dich etwa nicht bei all den Statuen,die wir hier zu bauen haben?«
   »Jetzt nicht mehr, aber das ist mindestens zweiKästen wert. Mach mir mal ein Fenster auf, dann zeig ich es dir -oder gib mir besser gleich einen ganzen Schirm.«
   Der machte es ja wieder spannend, aber gut. Der kleineJupiter auf dem rechten oberen Monitor war fertig, also weg damit. Ichgab den Schirm frei.
   »Alles klar, Al. Du kannst.«
   Ein Kämmerchen war zu sehen, die in die Tiefe fliehenderechte Wand war verdeckt von einem engbrettrigen Holzregal, dicht an dichtvoller Papierrollen und Schatullen. Vorne quer stand eine bequeme Liege,darauf Tücher in sanften Grüntönen, fein gegen das dunklePompejanischrot der hinteren Wand abgesetzt. Zu beiden Seiten eines kleinen,mehrteiligen Fensters hingen zwei Bilder voller Figuren, aus dem Rot gestanztwie weitere Fensterchen, allerdings sehr schlecht zu erkennen.
   »Was soll das denn, Al? Soll ich mich vielleichtdort jetzt rein setzen und lesen, oder was?«
   »Das wäre eine Möglichkeit, aber wohlnicht besonders convenient. Ruf doch einfach mal . . .!« Den Namenschrieb er unten auf den Schirm und ich sprach ihn laut aus.
   » . . . Plinia!«
   Sie wehte von links ins Bild in einem lockeren Mehrteileraus durchsichtigem Chiffon und war höchstens sechzehn. NordafrikanischerTyp, die Brauen ganz kurz vorm Zusammenwachsen, die Lippen leicht negroid.Die Haare kräuselten sich fettschwarz um ihren noch ein wenig kindlichenKopf. Doch die Haut schimmerte hell und spannte sich um reichlich knackigenBabyspeck. Sie legte sich auf die Cline und lächelte gerade herausaus dem Schirm, auf ihren linken Arm gestützt. Diesmal war ich es,der schrieb.
   »Wer ist das?« Al lachte.
   »Das ist die Tochter von Plinius, dem €lteren, derin den Fünfzigern hier für ein paar Jahre in CCAA gelebt unddiese zwanzigbändige Ausgabe über alle römischen Germanenkriegegeschrieben hat.«
   »Ich denke, die ist verschollen, die gibt es garnicht mehr.«
   »Wie manÕs nimmt. Als die hier das unterirdischeKöln mit den neuen Georadars und Spektrometerprogrammen durchgecheckthatten, tauchten doch noch ein paar Fragmente auf. €hnlich den medizinischenTomographen haben die die Erde in alle Himmelsrichtungen kreuz und querdurchschnitten, ohne dass auch nur ein wirklicher Spaten zum Einsatz kommenmusste, haben jeden Quadratmillimeter so exakt erfasst, dass daraus diesekomplette virtuelle Stadt entstehen konnte. Unter anderem fanden sie ebenauch noch Reste von diesen Texten. Nicht besonders viel, aber genug, umeiniges umschreiben zu müssen. Also, was du auf dem Schirm siehst,ist Plinia, eine absolut fiktive Computerfigur, reine Präsentationund Outfit. Dahinter steckt ein hochspezialisierter Suchwurm oder wenndu willst, ein Assistenzprogramm. Du kannst sie nach allem Geschichtlichenfragen, das Mädchen steht dann auf und tut so, als würde siein den alten Schinken nachgucken. Das ist natürlich nur Ablenke, damitdu die Wartezeiten nicht mitkriegst. Du kannst die nach allem suchen lassen,was dich interessiert, du rufst einfach ihren Namen und schon gehtÕs los.Super, sag ich dir. Die merkt sich sogar dein Wissen, sobald du sie neuinstalliert hast, erzählt nichts zweimal, es sei denn, du bestehstdarauf. Willst du das haben?«
   »Klar, hört sich doch gut an.«
   »Sieht auch gut aus. Am besten legst du dir dasProgramm irgendwo als Icon unauffällig in die Ecke. Man kann ja niewissen.«
   »Sicher, danke.«

   »Plinia?«
   »Ich höre.«
   Es war doch immer wieder schön, wenn ein Programmfunktionierte. Ich hatte mir erst die Voreinstellungen angeguckt, >überblicksartigbis detailliert<, >nüchtern bis blumig<, >schnell bis langsam<.Man konnte sie auch komplett weglassen und auf die Option >als Dokument<umschalten. Es gab sogar die allerdings arbeitsintensive Möglichkeit,die ganze Figur auszutauschen und durch etwas eigenes zu ersetzen. Siehier war offenbar das Geschöpf dieses alten Professors in Karlsruhe,vielleicht seine persönliche Lolita, aber was sollÕs. Gleich mal testen.
   »Plinia, ich wüsste gern mehr über diesenVitellius, nach dem unser Sommerspiel benannt ist.« »Ja, gerne.«
   Sie drehte sich nach hinten weg, rollte geschmeidig vonder Liege und ging zum Regal, wo sie sich bückte und eine Papierrollevon ganz unten herauszog. Sie bewegte sich sehr weiblich und selbstbewusst,beim Hocken war kurz ihre kleine runde Brust mit dunklen Nippeln zu sehen.Stimmt, fingertrommelnde Wartezeiten konnte man so vergessen.
   »Aulus Vitellius, geboren im Jahre 12, als Statthalterin Köln am zweiten Januar 69 zum Kaiser ausgerufen, gehörte zumberühmten Dreikaiserjahr 69, zusammen mit Galba, Otho und Vespasian,der ihn schliesslich für ein ganzes Jahrzehnt ablöste. Er . .. «
   »Halt, halt, die Daten kenne ich alle. Ich meine,wie war der denn so?«
   »Vitellius galt allgemein als Trunkenbold, Hurenbockund Vielfraß. Zeitlebens hoch verschuldet, versuchte er als Kaiser,es seinem großen Vorbild Nero gleichzutun und ihn womöglichnoch zu übertrumpfen. Er . . . «
   »Danke, danke, das reicht mir fürs erste.«
   Das Telefonsymbol auf dem anderen Schirm blinkte eh indiesem Moment und so ließ ich Plinias Kopf als Icon in einen Ordnermit lauter ähnlichen Büsten zusammenschnurren. Das Gesprächlegte ich mir auf denselben Monitor in Erwartung eines lebendigen Gegenübers.Doch nur das Foto eines älteren Römers mit Hakennase erschien,streng und unbeweglich. Der schmale Purpursaum an seiner dicken Toga zeigtean, dass ich einen Senator vor mir hatte, oder, da es ja bestenfalls jemandaus dem Kölner Stadtrat sein konnte, einen Decurio. Aber auch wenndas nur das Bild einer Spielfigur war, eine Stimme war dennoch zu hören,englisch mit einem merkwürdig fernen Akzent.
   »Herr Frehm?«
   »Ja.«
   »Entschuldigung, ich habe Ihre Nummer von IhremVorgesetzten, Herrn Zilinski. Er meinte, Sie könnten mir vielleichtweiterhelfen. Mein Name ist Kenzo Mishima und ab morgen werde ich als Stadtpraefektam Spiel teilnehmen. Ich sage Ihnen das ganz offen, weil ich die allgemeineGeheimniskrämerei um die Identitäten für stark übertriebenhalte. Sie können ja wahrscheinlich über keine Spielfigur verfügen,wie ich hörte.«
   »Leider nicht, Herr Mishima. Es heißt, esseien schon so viele zahlende Clubmitglieder im Spiel, dass das Ganze ausallen Nähten platzen würde, wenn man auch noch die reinlassensollte, die in den letzten zwei Jahren daran gearbeitet haben. Ich glaubedas zwar nicht, aber was soll man machen. Unsere ganze Abteilung darf nurzuschauen - bis auf den Chef natürlich.«
   »Tja, das tut mir leid für Sie, aber ich denke,wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Offiziell war das wohl nicht anderszu regeln, aber Sie sind doch alles Fachleute, die nicht auf den Kopf gefallensind. Ihnen wird schon noch was einfallen, oder?«
   »Hm.« Durchschaut, aber dazu konnte ich nichtssagen, ich kannte den Mann doch gar nicht.
   »Aber, entschuldigen Sie, das geht mich ja nichtsan. Weswegen ich mit Ihnen sprechen wollte, ist ein kleines Problem. Ichhabe mich vorhin schon mal in den Räumen der Praefektur umgesehen,gegenüber vom Forum, und habe festgestellt, dass zwei Büstenim Arbeitszimmer oben wackeln, die von Claudius und Aggripina nämlich.Ich habe gehört, Sie hätten damit zu tun.«
   »Ja, das stimmt.« Mist, ich hab die zwar gemacht,aber den Raum hat Didier eingerichtet. Was hat der denn da angestellt?
   »Ich verstehe das nicht ganz. Wie können diedenn wackeln?«
   »Ja, die wippen auf ihren Seitenkanten immer aufgeregthin und her und drehen sich dabei auch noch wie Tänzer um die eigeneAchse. Nichts Schlimmes, aber Sie wissen, wie das ist. Man muss halt immerhingucken, wenn sich was bewegt, wie früher beim Fernsehen.«
   »Jaja. Ich werde das sofort überprüfen.Die Endeinrichtung habe ich nicht selber gemacht, aber morgen frühwird bei Ihnen nichts mehr wackeln, dafür verbürge ich mich.«
   Jetzt fiel es mir wieder ein. Didier hörte manchmalMusik und packte einfach irgendwelchen Kram in so ein Kinderprogramm, dasalles tanzen ließ. Der Blödmann hatte das nicht wieder weggeschaltet.Na warte.
   »Vielen Dank und entschuldigen Sie, wenn ich Ihnendamit Mühe bereite. Aber auch ein kleines Wackeln kann sehr stören.«
   Er lachte kurz und herzhaft auf.
   »Ich sehe gerade noch so eine Verdrehung. Sie sitzenda in einem winzigen Kämmerchen, ganz japanisch, könnte man sagen,und ich laufe dagegen in einem riesigen Bunker rum.« Ich hatte garnicht darauf geachtet, dass meine Videoschaltung ja wie immer lief.
   »Zu welcher Firma gehören Sie denn, wenn ichfragen darf?«
   »Keine Firma. Auch keine Uni oder Regierungsabteilung.Wir sind eine Art Familienunternehmen und sitzen im Südosten von Australien.Außenstehende nennen uns auch gern mal die >Gehäuteten<,vielleicht haben Sie den Namen schon einmal gehört.«
   »Tut mir leid.«
   »Na dann, es war nett, Sie kennengelernt zu haben.Und vielen Dank nochmal.«
   »Keine Ursache.«

   »Didier?«
   »Ja, was gibt's?«
   »Du hast doch die Praefektur eingerichtet. Ich hattehier eben eine Beschwerde vom zukünftigen Praefekten, dass die zweiBüsten von Claudius und Agrippina wackeln. Fällt dir dazu irgendetwasein?«
   »Au, Scheiße. Klar. Ich hatte so tolle Musiklaufen, als ich da dran war und da hab ich . . . ich hab die Einstellungwieder gelöscht, aber ich hab den Papierkorb nicht geleert, glaubich. Muss da noch drauf sein, aber mach ich sofort. Versprochen. €h, sagmal, haste nicht ein Programm für mich? Damit ich ein bisschen reinkann,ohne dass das auffällt?«
   »Also du bist vielleicht lustig! Was denkst du dirdenn? Also kann ich mich darauf verlassen, dass du das gleich wieder inOrdnung bringst? Ich habe das vorhin zugesagt und es wäre mir ziemlichpeinlich, wenn . . . «
   »Ja ja, keine Angst, Mann!«  Er legteverärgert auf.
 


Prologus, alter ego,

Copyright © 1996 by Hartmut Zaender, Köln, Nachdruck zu ausdrücklich privaten Zwecken gestattet