. . . modus vivendi, horror vacui, natura non saltat, o tempora, o mores!, status quo, de mortuis, et vice versa, ubi bene, ibi colonia, non+ultra, tabula rasa 


modus vivendi

 Colonia Claudia Ara Agrippinensium,
Sonntag, 1.1. 69 u.Z.

 Wache in Lucius auf. Neben mir auf dem Bett die reglose Gestaltder Sacrata, die Schlitze ihres Kleids nach allen Seiten ausgerissen. Bloßihr Fleisch schaut überall heraus, nur leider nicht Fumiko.
   Stimmt. Mir fällt es wieder ein. Auf dieser Orgiegestern abend waren uns zuviele Grapscher, Spanner und Besoffene von unten.Wir hatten es dann in Felix Privattherme in einem der Ecktürme versucht.Die stand die ganze Nacht über den Besuchern offen. Es gab einen kleinenWarmraum mit nur einer Wanne und einer marmornen Bank, über der einewunderschön gemalte Szene mit Faunen und Nymphen zur Nachahmung lockte.Aber plötzlich saß auf der Bank ein fettes, altes Pärchen,aufdringlich laut und offenbar fest entschlossen, uns nun zuzuschauen.So sind wir wieder aufgestanden und zu mir gegangen, die Rheinufer Straßeentlang und dann quer durch die Stadt, schweigend, aber im geheimnisvollenGlanz der Dinge.
   Doch jetzt fühlte ich mich wieder verstört,allein und ziemlich verloren. Ein Rest Instinkt riet mir, die Haut malabzulegen und mich für eine halbe Stunde unter die Dusche zu stellen.Ich verstand weder, was hier und heute, noch was in der virtuellen Weltso richtig vor sich ging. Die ewig bange Frage >Wie leben?< brach sichin den Tausenden von Duschtröpfchen wie das ferne Echo des Urknalls.Nass, wie ich war, legte ich mich in meinem Zimmer noch einmal hin undfühlte mich nun ein wenig gewappnet gegen seine synthetische staubigeTrockenheit. Ich träumte die Verwandlungen, die wir heute Nacht ersponnenhatten. Sie war Kali, die finstere indische Unterweltsgöttin, siehielt mich fest mit ihren sechs Armen umklammert. Zwei Hände kreistenum meinen Kopf, zwei strichen mir, bewehrt mit langen, harten Fingernägeln,über den Rücken und zwei drückten meinen Hintern, in demein Finger steckte, ganz eng an sich.
   Ich war eine burleske Figur, knubbelig klein, aber miteinen Phallus hoch bis zum Scheitel und stürmte wild auf sie los.
   Ich war ein Satyr und sie eine Mänade.
   Mal lagen wir in prickelndem Quellwasser, mal triebenwir aneinandergeschmiegt durch flüssige Wolken.
   Wo war der Boden, auf dem durch diese Welt gut gehen ist?

   Erst einmal begab ich mich, gut abgefüllt und hautlosin den Gruppenraum, in dem mal wieder nur Fatima ihre Nachrichten tanzte.Ich machte mir ein Fenster für das historische Protokoll auf, um michneu zu orientieren. Ich schaute nach, welche Plätze im Augenblickauf den öffentlichen Kanälen greifbar waren und fand nur nocheinen auf dem Appellhof der ersten Legion in Bonn. Auf einer Erhöhungwar Valens mit einigen Tribunen zu sehen, vor ihm die Legionäre inUnordnung durch einander laufend. Wütend, schreiend, tobend warfensie Steine auf die Standbilder des augenblicklichen Kaisers Galba.
   Historisch korrekt.
   Gelungen das Ganze. Die acht germanischen Legionen machtenfast ein Drittel aller römischen Truppen aus und konnten schon einegewaltige Power entwickeln. Zusammen mit den sich anschließendenLegionen aus England, Frankreich und Spanien würde Vitellius einigesauf den Beinen haben, dazu noch all die einheimischen Hilfstruppen wiedie acht Reiterkohorten der Bataver, die als wilde Haudraufs immer äußerstgerne mitmischten und zum Beispiel dafür berühmt waren, dasssie in geschlossener Formation schwimmend einen Fluss durchqueren konnten.Caecina würde im Februar mit dem halben Heer dem Otho entgegen denalten beschwerlichen Weg über die Alpenpässe nehmen, währendValens mit den übrigen Legionen seine Blutspur der Verwüstung,Plünderung, Erpressung und Vergewaltigung durch ganz Gallien ziehenwird.
   Soweit das militärische Protokoll für heute.Ich lasse die Bilder von morgen in meinem Kopfkino ablaufen. Fabius Valensmit den Bonnern wird den Anfang machen und abends mit all den Reitern,die sich das nicht nehmen lassen werden, die Via bonnensis heraufbrettern,das heilige Schwert des vergöttlichten Julius Caesar aus dem Marstempelholen und unter großem Gejohle das Praetorium stürmen. Sie werdenden Vitellius, der es sich in seinem Schlafzimmer mit einem Kohlebeckenund einer kleinen Nachtschlemmerei schön gemütlich und warm gemachthaben wird, so wie er ist, in seinem Nachthemd herauszerren, zum Kaiserausrufen und ihn auf einen Gaul hieven. Sie werden losziehen und sich immermehr feierwütige Ubier einverleiben und sie werden schwankend, übersich den Vitellius in Feldherrnpose mit dem Caesarenschwert in der Hand,diesen improvisierten Triumphzug quer durch die Stadt schieben und drücken.
   Solange, bis sein Zimmer im Praetorium zu brennen beginnenwird und alle erschrocken ein böses Omen zu erkennen glauben. DochVitellius kennt von Kindesbeinen an immer nur die schlimmsten Vorzeichenund wird auch hier nur flapsig bemerken:
   »Lasst euch eure gute Laune nicht vermiesen. DasFeuer hat doch für uns geleuchtet!«

   Bei den zivilen Daten fand ich für den heutigen Tagnoch eine Notiz über einen weiteren festlichen Umzug zu Ehren vonClaudius und Agrippina (auf dem Forum, nach Einbruch der Dunkelheit).
   Live gab es noch eine Doppelschaltung auf den Platz vordem Capitol und parallel dazu ins Innere des Tempels. Es schien hier eineweitere Vereidigung stattzufinden. Priester in vorm Kinn geschnürtenBadekappen, so sah es jedenfalls aus, organisierten die Übergabe derBürgermeistertoga. Die beiden neuen Duumvirn erhielten heute vor denversammelten Dekurionen, dem Stadtrat, von den Vorgängern ihr Amtskleidund zum Abschluss noch die Fasces zum Zeichen ihrer Machtbefugnis und warendamit für ein Jahr gewählt. Ein gewisser Marsilius und ein Segibalduswaren diesmal an der Reihe.
   Erst mittags würde ich Fumiko in der Praefektur wiedersehen,wenn ihr Onkel seine diversen Konferenzen diesseits und jenseits der Monitorebenebeendet haben wird. Ich wollte mich heute morgen mal einfach als Touristumgucken.

   Ich schlendere die Mauerstrasse entlang. Ich schwenke aufden Cardo und denke, ich bin wieder Kind und auf der Severinstraßebei einem dieser Stadtteilfeste am >längsten Tisch von Köln<und muss mich durch die Menge drängeln.
   Ein ungeheuer buntes Völkergemisch, bestehend ausden verschiedensten Germanenstämmen, aber auch aus den Mittelmeervölkern,schiebt sich herauf und herunter. Die Sonne scheint mild und macht weicheSchatten. Wer einen Laden besitzt, hat Tische mit Naschwerk, Weinkrügenoder Bier unter den Säulengängen aufgebaut. Wer braun ist, hatseine Farbe nicht aus dem Sonnenstudio. Wer nicht in einem Tank sitzt undtrinken kann, flaniert eben einfach in der Strassenmitte und guckt undlässt gucken.
   Ich sehe wieder diesen Anton. Zum einen überragter die meist kleineren Gestalten mit seinem runden, hellbraun umlocktenGermanenkopf und den tatsächlich abstehenden Ohren, aber mehr nochfällt mir seine Nervosität auf. Er steht an der Ecke unter demSäulengang und blickt abwechselnd aufŐs Nordtor, den Cardo herunteroder hinter sich in die Via sagularis. Er trägt einen dunkelbraunenKapuzenmantel, mit drei Schnallen vorne gebunden. Mir fällt ein, dassich seinen Spielnamen überhaupt nicht kenne. Er wird in ein längeresGespräch gezogen von jemandem, den ich nicht sehen kann, weil er hinterder Straßenecke steht. Meist hört er zu, nickt mehrfach, schütteltden Kopf, nickt wieder. Offenbar zur Verabschiedung verschwindet er füreine Weile hinter der Ecke. Ich will ihm schon hinterher, da steht er wiederan derselben Stelle, keinen Deut ruhiger.
   Laute, kräftige Ausrufe (auf Latein) kündigenhinterm Tor etwas Wichtiges an. Da dieser Anton jetzt gebannt auf das größteTor Kölns starrt, laufe ich schnell durch die Leute auf die andere,auf seine Seite und klemme mich ins mittlere Tor der drei nebeneinanderliegendenLagerhallen. Nur das erste, an dessen Ecke Anton wartet, hat geöffnetund so trennen uns zwei herausgestellte grobe Holztische mit ausgestelltenÖl-, Parfüm- und Salbfläschchen.
   Vier vor lauter Amtsgewalt aufgeblähte Liktorenselbstläufer(nehme ich jedenfalls an) kommen durchs mittlere Tor und machen den Wegfrei. Vitellius lümmelt sich, mehr als zufrieden, auf einer Acht-Mann-Sänfte,um die eine Reihe von Sklaven wieselt, dunkelhäutige Männer,Schalen mit unterschiedlichen Knabbereien für den kleinen Hunger zwischendurchbalancierend, aber auch halbnackte Schönheiten mit Fächern. (Wozueigentlich?) Dahinter eine kleine Abteilung hiesiger Praetorianer.
  Vitellius, in der Linken ein feinseidenes, blaugüldenesTuch zum Betupfen des gefrässigen Mauls, lächelt huldvoll allenplatzmachenden Gaffern zu. Durch einige von ihnen muss Anton sich quetschen,um näher an den Zug heranzukommen. Von einem Liktorenbündel aufDistanz gehalten, ruft er dennoch Vitellius etwas zu, was ich aber nichtverstehe. Vitellius prostet ihm wie einem notwendigen, aber lästigenFan gönnerhaft mit ausgestrecktem Silberbecher zu, bevor ein Sklavemit riesiger Amphore ihn unsanft zurück in die Menge schubst. DieserAnton sieht jetzt recht belämmert aus und sein Gesicht fülltsich zunehmend mit Wutröte. Er stiert ungläubig hinter Vitelliusher, unternimmt noch einen zweiten Versuch, wieder heranzukommen, erntetdieses Mal aber einen schmerzhaften Schlag gegen das Schienbein von einemPraetorianer, an dem er sich vorbeischlängeln will.
   Lass es doch gut sein jetzt!
    Die meisten Leute schließen sich dem Zug anund rempeln noch ein paarmal gegen den unschlüssig stehengebliebenenAnton.

   Ich bin nicht der einzige, der ihn beobachtet. Aus einemder Seitentore ragt der rotblonde Mattenkopf des langen Gladiators heraus.Sein Bart ist inzwischen gefärbt und glänzt von einer knallroten,schmierigen Paste. Anton bemerkt ihn nicht, während er noch einigeZeit kopfschüttelnd und mit verkniffenem Mund dasteht. Er merkt nicht,dass er von zwei, wenn auch sehr verschiedenen Blicken festgehalten wird.
   Da liegt was in der Luft, das werde ich mir ansehen.
   Als Anton dann doch unschlüssig den Cardo hinuntergeht,warte ich eine Weile, während ich mir über ein Glas in der Handgebeugt die Auslagen betrachte. Erst, als der Lange auch an mir vorbeiist, folge ich den beiden und überlege, mit welcher Wahrscheinlichkeitder Mattenkopf ebenfalls Julius heißt. Wenn schon nicht Julius, dannaber sicher Claudius.

   Anton bleibt zwei Inseln weiter noch einmal kurz vor demPortal des Praetoriums stehen, hinter dem der Zug verschwunden war, gehtdann aber Richtung Süden weiter, wir im Abstand von vielleicht jezehn Metern dahinter. Ich überschlage kurz die Situation.
   Die beiden vor mir müssten sich auf jeden Fall kennen,aus der Gladiatorenschule. Der Lange kennt mich nicht. Anton kann michzweimal gesehen haben, im Bootshaus, was ich aber eher nicht glaube undgestern auf dem Fest. Mir ist aber zu keinem Zeitpunkt aufgefallen, dasser nach mir geguckt hätte. Der Lange müsste also aufpassen, wennAnton sich umdreht, ich eigentlich nicht. Doch wie wir nach einer Viertelstundedas Südtor passiert haben, muss ich mir eingestehen, dass ich michgetäuscht habe. Der Lange will nicht unerkannt beobachten, so wieich, er will ihn stellen.
   Denn als Anton versucht, noch vor der Benefiziarierstationnach links ins Hafenviertel des Vicus superior abzubiegen, wird er mitwenigen Schritten eingeholt. Ein kurzer Ruck dreht ihm den Arm auf denRücken. Anton sieht ihn nur erschrocken an und auf seinem Gesichtscheinen alle €ngste wahr geworden zu sein. Der Lange schiebt ihn nun weiterdie Bonner Straße entlang und grüsst sogar noch frechfreundlicheinen der alten Wachleute vor der Station. Die ausgeprägte Beule linksan seinem Mantel zeigt mir, dass er wohl eine Hand am Dolch hat. Bis aufeinige Ochsenkarren ist die Straße frei. Die Leute haben jetzt wohlLustigeres zu tun.
   Ich muss nun stärker auf Deckung achten und haltemich ganz links, mal hinter einem Baum, einem Haus, einem Brunnen michverbergend. Aber der Lange dreht sich nicht um, ist sich seiner Sache ganzsicher. So geht es zehn Minuten weiter, bis die engen Fachwerkhäuserdes Vicus von Feldern und den Mauern ausgedehnterer Landvillen abgelöstwurden, bis endlich auch sie den Altären, Grabdenkmälern undkleinen Tempelchen Platz machen.
   Es war ein Fehler, dem nickenden Blick des Langen hinterein bald zehn Meter hohes Grabmal keine Bedeutung beigemessen zu haben.Denn kaum habe ich es erreicht, springt mich urplötzlich ein Mannan und hält mir einen Krummsäbel an den Hals. Ich hättemich beinahe selbst entleibt, als mir vor lauter Schreck kurz die Knieweich werden, kann mich aber gerade noch fangen.
   So werde ich nach vorne zu den beiden anderen geführtund überlege fieberhaft, was ich denn jetzt überhaupt sagen soll.Ich kann wohl schlecht leugnen, dass ich ihnen die ganze Zeit übergefolgt bin.
   Aber warum eigentlich?
   »Du bist uns vom Nordtor bis hierhin gefolgt. AlsoZeit genug, um zu wissen, wozu«, kommt der Lange auch gleich in hartgehacktemEnglisch zur Sache.
   »Wer bist du? Und komm mir nicht mit irgendeinemlateinischen Spielnamen!«
   »Was soll das? Ich weiß überhaupt nicht,was Sie wollen. Ich hatte nichts zu tun und habe gesehen, dass Sie demMann da folgten. Da wollte ich nur mal . . .«
   Weiter komme ich nicht, denn plötzlich hab ich seinePranke im Gesicht und wünsche mir, ich wäre nicht hier.
   »Ich hab gefragt, wer du bist.«
   »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen das sagen muss.«
   Noch eine.
   »Wir nehmen ihn einfach mit. Dann gucken wir weiter.«Sein Kumpel, ein kleiner, dunkler Mittelmeertyp, dem der Kopf vor lauterMännlichkeit schon durch die Haare wächst und dem die schwarzenLocken büschelweise aus dem Hals-tuch quillen, er zwirbelt mit derfreien Hand meinen Mantel am Rücken und schiebt mich vor sich herzwischen zwei hohe Grabstelen.
   Scheiße. Was soll das?
   Dieser Anton mustert mich verstohlen und misstrauischaus den Augenwinkeln.
   Hinter den Protzgräbern vorn an der Straßezieht sich parallel ein weiterer Gräberweg, an dem wie am Schnürchenmannshohe Steine stehen mit Reliefs von Gastmählern, Pferden und jederMenge Legionäre, alle mit abstehenden Ohren und kitschig-bunt bemalt.Einen Stein kenne ich, denn ich habe ihn selbst bearbeitet. Irrwitzigerweisemuss ich gerade jetzt überprüfen, ob die Inschrift auch so ist,wie ich sie im Kopf hab. Sie ist es.

Q. LUCIO SCAURO.
A. F. MIL. EX COH. NOR.
NAT. F.J. ANN. XXXVI

STIP XVII H. EX T. FC.

 (was soviel heißen soll wie: Dem Quintus Lucius Scaurus,Sohn des Aulus, Soldat der Norikerkohorte. Aus Forum Julius (Frejus) imAlter von 36, davon 17 Jahre besoldet. Der Erbe hat es dem Testament gemäßhier aufstellen lassen.)

   Sie zerren uns hinter die Steine, quer durch ein Gebüschbis zur Rückseite kleinerer Tempelchen, die wohl an einem Nebenwegliegen. Manche besitzen ein Untergeschoss, das über eine Treppe erreichbarist. Dahin also, denke ich, als der Lange heruntertippelt und eine dickeHolztür mit einem Riesenschlüssel öffnet. Beim Reingestoßenwerdenist so gerade noch zu sehen, dass sich rechts und links über niedrigenMarmorbänken Urnenfächer aneinanderreihen wie in einem Banksafe.Die Stirnwand ziert eine Totenmahlszene in einem Stucktempelchen. Dannplötzlich ist es stockduster, muffig und klamm. Der metallische Klangdes Schlüssels hängt noch eine Weile in der Luft.


. . . modus vivendi, horror vacui, natura non saltat, o tempora, o mores!, status quo, de mortuis, et vice versa, ubi bene, ibi colonia, non+ultra, tabula rasa . . . ante portas

Copyright © 1999 by Hartmut Zaender, Köln, Nachdruck zu ausdrücklich privaten Zwecken gestattet