Hartmut Zänder
»Schule der Springlebendigkeit«

»Einführung«

Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich künstlerischan etwas, das man eine visuelle Untersuchung der modernen, nirgendwo ausgeschriebenenund festgelegten Ikonographie nennen könnte. Sie zeigt sich in Schul-und Ratgeberbüchern, in Werbung, in Film und Fernsehen, in Bildwörterbüchernund wandert im Augenblick in die Multimediawelt der Computer. Diese Ikonographieregelt den Umfang der sichtbaren Welt, was darin an Typen und Mustern zuerwarten ist und wie sie verstanden werden sollen. 
Sie bestimmt, was überhaupt noch tabu oder aberangesagt ist, womit man rechnen muß und was an Neuem zu erlernenist. Sie hat z.B. bewirkt, daß seit mehr als zehn Jahren alle Uhrenin Werbeanzeigen auf Acht-nach-Zehn stehen, obwohl mir bisher kein Fotograph,danach gefragt, den Grund angeben konnte. Wahrscheinlich wirkt diese Zeigerstellungfreundlicher als Zwanzig-nach-Sieben, doch merkwürdigerweise hältsie sich auch da noch, wo die Uhren auf der Seite liegen, auf dem Kopfstehen, ja selbst Digitaluhren habe ich entdeckt, die Acht-nach-Zehn anzeigten. 
Als Ende der 70er Jahre LBS eine Werbekampagne startete,in der Männlein und Weiblein hochdynamisch über Modellhäusersprangen, erschien mir dies als eine ungeheure Verdrehung. Wie kommt es,daß sich ein Mensch freudestrahlend über das hinwegsetzt, wasihm doch seit Zivilisationsbeginn Dach-über-dem-Kopf, Schutz, Aufenthaltund Fassung bedeutet hat. Ähnlich verdreht ist das Motiv des Großstadtmanagers,der mit seinem Aktenkoffer und über die Schulter flatternder Krawatteüber einen Blumenkübel springt. Wieso fliegt in so vielen Fernsehserienund Filmen dauernd etwas in die Luft, am liebsten Autos? Wieso glaubenheute alle an den Schöpfungsmythos "Big Bang"? Wieso heißendie Arbeitsfelder am Computer "Windows"? Alles Fragen, die ein komischesStaunen erzeugen und keine vorschnelle Antwort dulden, sondern nur denVersuch eines differenzierteren Verstehens. 
Die Beschäftigung mit solchen Motiven und Metaphern,die geeignet schienen, die moderne Verfassung im Umgang mit Natur zu formulieren,hat jahrelang meine meist großformatige Malerei genährt. Benzinkanister,Eierkartons, Teebeutel, eingeschweißte Suppengrünpackungen undBlumenkübel waren Antrieb für mehrere Malserien. 
Die Frage, warum sehen manche Sachen so aus und nichtanders, wandelte sich dabei für mich in die Frage, wie schauen wirdie Dinge an, damit sie so aussehen? Dies führte folgerichtig zu einerAuseinandersetzung mit einer Geschichte des Sehens, besser gesagt, derabendländischen Geschichte der Perspektivelehre. 

Es sind zwei Interessenstränge, die eine imaginäre"Schule der Springlebendigkeit" versorgen. Der eine ist eher konkret undblickt auf das Gesamtrepertoire der Sprungmuster, wie sie in die jeweiligenZusammenhänge aus Religion, Sport, Tanz, Zirkus, Gesundheitsratgeberund Kunst eingebunden sind. Zu sehen sind sie in Enzyklopädien, Bildwörterbüchern,Werbung, Filmen und den speziellen Sachbüchern. Der Gesamtbestanddieser Muster, die natürlich nicht jedem möglich sind, wird vonZeit zu Zeit durch Innovationen erweitert, die inzwischen meist den Namendes Erfinders tragen. Der Sprung auf den Stuhl des Clowns Grock, der Fosbury-Flop,der Yamashita-Sprung, der Salcho, der Axel, der Auerbach und andere. 
Ein definierbarer Sprung wie die genannten dient alsMuster, das Schulung, Übung und Wiederholung ermöglicht. Mehrals dieser konkrete Aspekt der technischen Reproduzierbarkeit interessiertmich bei diesen VorBildern eine eher abstrakte, semantische Betrachtung.Was bedeutet eine Geste, eine Pose, eine Haltung oder Bewegungsgestaltfür das Verstehen der "menschlichen Bedingung". Die verschiedenenFormen des "In-der-Welt-seins" finden wir nicht nur im philosophischenKontext, sondern können sie in Religion, Kunst oder dem schöpferischenAlltag richtig angucken und dann entscheiden, ob das was für uns ist. 
Jeder neue Sprung ist auch eine weitere Variante unsererStellung im Kosmos. Die modernen Formen, das trudelnde "Lost-in-space",der Bungee-Sprung, das U-Bahnsurfen, das stage-diving, channel-hoppingsind für die Springer höchstbedeutende existentielle Möglichkeiten,die das Leben entschieden verändern sollen. Das Springen-könnenist für jedes Kleinkind Ausweis seines vitalen Fortschritts (eineStufe mehr) sowie Ausdruck purer Lebensfreude. 
All die vitalen Bilder von Sprüngen sind gegen dieHinfälligkeit des Lebens gesetzt. Die Formen des Fallens, des Stürzenssind gültige Gegenbilder der Sprünge. Der Fall der Blinden, derSoldaten, Mädchen, der Mauer erinnern an die Seite des Lebens, diealle vor sich haben. Auch diese Formen wollen entwickelt und vorgestelltwerden. Der Sturz des Ikarus, die gefallenen Engel und Höllenstürzewarnen ebenso vor hybriden Bewegungen wie die Fallanleitungen der Slapstickmeister.Wer grosse Sprünge machen will, fällt leichter auf die Nase oder"Hochmut kommt vor dem Fall". Oft gehen beide ineinander über oderbilden eine Synthese wie beim Fallschirmsprung oder beim Turmspringen. 
Eine vollständige Auflistung all dieser Sprüngeund Stürze würde Bände füllen, wollte man auch dasberücksichtigen, was der Film an Sprungeigenheiten und Stunts beizutragenhat. Abgesehen von den Sprüngen, die bildlich schwer faßbarsind wie dem Quanten- oder dem Artensprung, dem qualitativen von Kierkegaard,dem Achsensprung beim Film u.a. 

Der Film scheint ein eigenes Verhältnis zum Sprungzu haben, nicht nur, weil das Springen, Gleiten, Schweben, Fliegen undStürzen zu seinen Lieblingsmotiven gehört, inklusive dem Anspringenvon Autos und dem Seitensprung. 
Die Logik der perspektivischen Wahrnehmungskonstruktionbraucht den Sprung, weil sie selbst starr, kristallin und unbeweglich ist.Sie hat das betrachtete Objekt durch die Schnittstelle der Kamera dem verbindlichenKontakt des ausgesperrten Betrachters entzogen. Diese abendländischeSubjekt-Objekttrennung, dieser Abgrund hinterläßt einen sehnsuchtsvollenSog und ist nur durch einen Sprung zu überbrücken. 
Die Perspektive muß beim Film für jedes Bildchenneu aufgebaut werden, soll der Bewegungseindruck entstehen und dies kannebenfalls nur sprunghaft geschehen. 

Die Steigerung des Springens ist das Sprengen, was eigentlichso viel heißt wie Springen lassen oder machen. Zu dieser weiterführenden"Schule der Sprenglebendigkeit" gehören sowohl die Zeichnungen zuden James Bond- wie zu den Schwarzeneggerfilmen. 


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