Hartmut Zänder: Die Kunst im Umgang mit Projektion | Mehr Texte und Links zur Photographie auf der Liste der Uni Erlangen | Mehr Muybridge-Animationen bei dem Photographen CharlLucassen, NL |
Der folgende Text wurde in etwas längerer Form 1991auf einem Psychologensymposium zum Thema »Projektion« gehaltenund war eingebunden in überwiegend psychoanalytische und sozialwissenschaftlicheVorträge. Illustriert durch vier große Bilder, sollte »Projektion«als praktisches, künstlerisches Verfahren vorgestellt und in ihremideengeschichtlichen Zusammenhang anders fokussiert werden. Die Rolle,die der Künstler beim Herausbilden, Formulieren und Verbreiten desBegriffs »Projektion« gespielt haben, sollte genauso betontwerden wie die Bedeutung der perspektivischen Wahrnehmungshaltung selbst,wie sie für den Alltag wie auch für wissenschaftliches Betrachtenwichtig wurde. (Passagen wurden in dem Katalogtext: DieProbleme des Konstrukteurs übernommen.) Die Betrachtung einer klar beschreibbaren Wahrnehmungskonstruktion,die »perspektivisch« heißt, soll hier in ihren drei Aspekten,festgemacht an einem Bild von Dürer, im Mittelpunkt stehen. So müssenzwangsläufig einige Sachverhalte, die auch und vielleicht noch engermit dem psychologischen Begriff der »Projektion« zu tun haben,in den Hintergrung rücken. Worum es hier geht, ist die alte Fragenach der Wahrnehmung und dem Ausmaß an Eigenbeteiligung einesWahrnehmenden. Dies ist ein Feld, auf dem sich seit dem ersten Auftretender Fragestellung eine Fülle von Leuten getummelt haben, Physiker,Chemiker, Ärzte, Philosophen, Psychologen, Theologen und Künstler.Es haben sich dabei fast genau so viele Begriffe und Unterbegriffe gebildet,wie es Hinsichten und Fragestellungen gab. Die Rolle, die die Kunst indiesem abendländischen Diskurs gespielt hat, möchte ich mit einigenBeispielen aus der konzeptionellen Werkstatt meiner eigenen Arbeit, ausder Kunstgeschichte und aus Teilbereichen der Kunsttherapie und künstlerischenLehrtätigkeit ein wenig erörtern. | Eadweard Muybridge Woman jumping over low hurdle |
Es gab seit dem Beginn der abendländischen Philosophie zwei Hauptansätze,Wahrnehmung selbst zu begreifen. Der eine Weg ging über die Sprache.Er knüpfte bei den logischen Beziehungen unserer Sätze an (Subjekt-Praedikat-Objekt)und führte zu der bekannten Formel: »Wahrheit ist die Übereinstimmungvon Denken und Sein«. Diese Formel ist zwar sehr griffig, aber leiderreichlich inhaltsarm, weswegen es in der Folge zu zahllosen Streitereienkam über die Frage, wie denn diese »Übereinstimmung« zu verstehen sei. Der zweite Weg war der der Anschauung. Er ging eher von einer mathematisch-geometrischenSicht aus, griff praxisbezogene Alltagsprobleme wie zum Beispiel die Fragenach der tatsächlichen Position eines Schiffes mit auf und führtekonsequenterweise zu anschaulischen Darstellungsformen. Dabei ist auchnicht mehr die Rede von der Wahrheit, sondern von der Wahrnehmung. Dererste Versuch, Wahrnehmung als anschaulische Konstruktion ins Bild zu setzen,scheint schon recht komplex in der Optik von Euklid gegeben. Wie sieht das aus? Es gibt auf der einen Seite ein Auge als Betrachtersubjekt, auf deranderen Seite ein betrachtetes Subjekt und dazwischen die Betrachtung selberin Form einer Sehpyramide, deren Spitze im Auge endet. Die Pyramide mußteals eine Bündelung von Sehstrahlen gedacht werden, die, vom Auge ausgehend,das menschliche Subjekt mit dem Objekt verbanden. Das Wort »Verbindung«ist dabei äußerst wichtig, markiert es doch noch die Offenheitzwischen Subjekt und Objekt. Für das Bild der Konstruktion ist esvöllig gleichgültig, ob die Sehstrahlen vom Objekt selber ausgehenoder als Reflexionen eines Dritten (der Sonne) das Auge treffen, oder obsie andersherum vom auge aus das Objekt ergreifen und dann reflektiertwerden. Diese Offenheit läßt noch ein Zurückblicken derDinge zu. Das Alltagswissen über Wahrnehmung lehrt, daß wir nichtungestraft alles und jeden nach unserem Belieben angucken können,daß wir Rücksichten nehmen und vorsichtig sein müssen.Sehen ist riskant und hat immer Konsequenten. Am deutlichsten wohl da,wo etwas zurückgucken kann, wo eine lebendige, dialogische Wahrnehmunghergestellt wird. Wenn zwei sich gleichzeitig angucken, setzt sich jederfür Veränderungen aufs Spiel. Ein lebendiger Blick läßtsich eben nicht abstrakt fassen, immer nur konkret, individuell, hochkomplexund intentional. Was muß alles an Emotionen, Haltungen, Einstellungen,Lern- und Gestaltungsstrategien, an Selektionen, Projektionen und Motivationenzusammenkommen, um einen lebendigen Blick herzustellen. Solche unterschiedlichenBlickverfassungen, Konzeptionen ins Bild zu rücken und somit lernfähigzu machen, war immer auch eine Aufgabe von Kunst. Künstler haben inder Regel im Auftrag von privaten, öffentlichen und kirchlichen Machthaberngearbeitet und deshalb ist das imaginäre Museum der Blickverfassungenin seiner Auswahl von deren Interesse bestimmt. Wir finden vornehmlichdie Blicke von Herrschern und solche, die sie von anderen erwarten. DieseSammlung an stolzen, devoten, koketten Blicken z.B. zu erweitern, war immerdem Privatinteresse von Künstlern anheimgestellt. Von einer solchenPhänomenologie der Blicke aus betrachtet läßt sich ermessen,was alles vom lebendigen Menschen weggeschnitten werden muß, um zueiner abstrakten Konstruktion von Wahrnehmung zu gelangen, die unverfälschtwäre durch Interessen, Projektionen, durch verantwortliches Verbundenseinmit allen Dingen. Der Fotograph des liegenden Weibes, 1987 Was übrigbleibt, wenn vom Menschen alles Menschliche weggeschnittenwird, ist eben ein gedachtes, bloß vorgestellten Auge. Dieser interesselose,projektionsfreie Blick, den es bis dahin im Alltag nie gegeben hatteund der einer göttlichen Allsicht vorbehalten war, hat es geschafft,sich nicht nur unter andere Blicke zu mischen, sondern heute die bestimmendeWahrnehmungshaltung geworden zu sein.
Es gibt eine Zeichnung von Dürer, die heißt »Der Zeichnerdes liegenden Weibes« und ist in einem extremen Querformat gehalten.Rechts sitzt an einem Tisch ein elegant gekleideter Mann, der übereinen Obelisken peilt, vor sich sein Zeichenblatt und den Rasterrahmen,dahinter eine nackte, sich räkelnde Frau, die man, auch wegen desLeinentuchs, nicht gut erkennen kann. Aber wir sollen ja auch nicht aufdie Frau achten, denn die präsentiert sich ja nur dem gezeichnetenZeichner, sondern auf die für uns hergestellte Konstruktion. |
Versteht man einen Blumenkübel nicht als bloße Dekoration,sondern als eine uralte Metapher, so läßt sich an ihr ganz gutversinnbildlichen, um welche Art Grenze es dabei geht. Gewöhnlich wird ein Blumenkübel als ein Ding genommen, abertatsächlich sind es zwei, die lebendige Pflanze, die wir aus ihremnatürlichen Zusammenhang gerissen und in eine Fassung gestellt haben,die dem Bereich unserer Projektionen und Produktionen entstammt. Die Griechennannten diese zwei Dinge nach der Art ihrer Hervorbringung POIESIS undTECHNE, das frei aus sich selbst Herauswachsende und das von uns Hergestellte.An jedem Blumentopf könnten wir heute ablesen, was wir zu Beginn unsererGeschichte mit uns selbst angestellt haben, indem wir uns aus der Wildnisherausgelöst, abstrahiert haben, um einen häuslichen Bezirk auseigenen Formen zu installieren. Über Jahrtausende hinweg standen Blumenkübeldeshalb immer da, wo eine Grenze zwischen Innen und Außen, zwischenhäuslichem und wildem Bereich gezogen wurde, also auf Fensterbänken,an Hauseingängen, Toreinfahrten, beim Altar. Das Verhältnis vonInnen und Außen hat sich heute komplett herumgedreht. Waren früherHäuser und Städte von gefährlicher Wildnis umgeben, so kommtdiese heute nur noch als Reservat (oder besser: Reserve) innerhalb vonStraßen, Formvernetzungen und Strategien vor. Es scheint, daßwir heute diese Grenze nicht mehr sehen wollen. In ihrer modernen Funktionalitätmarkieren Blumenkübel und Fenster keine Grenzen mehr. Da stehen Blumenkübelwahllos als Stadtmobiliar in Fußgängerzonen, auf Parkplätzenund Verkehrsinseln und machen keinen Sinn mehr. Mit der Erfindung von verspiegeltenGlasscheiben haben wir uns ebenfalls der Möglichkeit beraubt, dieGrenze wahrnehmen zu können. Von innen betrachtet, sieht das Draußen wegen der Tönungder Scheiben aus wie eine bloße Verlängerung, von außenbesehen lösen sich Häuser fast auf, wenn sich auf ihnen Himmelund Wolken spiegeln. Dem entspricht z.B. auch das Unterschiedsloswerdenvon Haus- und Straßenkleidung. Das, was darin sichtbar wird, nenneich die »Verwischung der Grenze«. Der Konstrukteur hat zwei Probleme. Das eine ist die anfänglicheUnsicherheit im Umgang mit Der Schnittebene. Er weiß noch nicht genau,was er mit ihr alles anfangen und welche Funktionen sie übernehmenkann. Er hat eine Fläche vor sich, auf der er in sicherer Entfernungdie Dinge seines Sichtkreises verhandeln, vermessen und darstellen kann,ohne irgendetwas selber anfassen zu müssen. Damit rückt die Verwirklichungeines alten Jägertraums näher. Sehen, ohne gesehen zu werden,treffen, ohne getroffen zu werden. Der Dürersche Zeichner hat es noch mit drei Fokussierungen zutun, zum einen auf die Frau (es dreht sich hier hauptsächlich um Männerblicke),auf die Rasterscheibe und auf seine Zeichnung. Mit der Erfindung der Apparate,die aus dieser Konstruktion hervorgegangen sind, der Foto-, Film- und Computerapparate,ist es heute möglich, alles Wirkliche auf nur mehr einer einzigenSimulationsebene zu verrechnen und zu verhandeln. Fotographen, Fernsehzuschauerund Computerbenutzer schauen nicht mehr durch ein Fenster auf ein Wirkliches,sondern auf die Fenster selbst (beim Computer: WINDOWS). Die Erfindung der Fotographie hat unsere Konstruktion in ein Ding gepackt,das von seiner Logik her von alleine funktionieren kann, wobei uns nurnoch die Rolle eines »Auslösers« zufällt. Das Fotographierenmacht aus allem ein Objekt, mit dem sich niemand mehr real verbunden zufühlen braucht. Der Fotoapparat schützt vor dem Zurückblickender Dinge. Götter, Geister oder böse Blicke sind nicht mehr zubefürchten, deshalb wird alles technisch Fotographierbare auch tatsächlichohne Ansehen der Person fotographiert. Die Fotographie und alle Folgeverfahrensind grundsätzlich rücksichtslos. Darüber kann auch nichtder überaus höfliche Umgang von z.B. Urlaubsfotographen untereinanderhinwegtäuschen, die sich gegenseitig den Vortritt lassen, aufeinanderwarten, unter einem Fotographierenden wegtauchen oder einem Wildfremdenden eigenen Apparat anvertrauen, um sich gegenseitig zu knipsen. Bei demBild des Fotographen haben wir noch einen guten Pack-an, wenn es darumgeht, uns unsere Wahrnehmungskonstruktion sinnfällig zu machen. Hinterdem Apparat steht ja noch ein Mensch. Inzwischen ist jedoch schon die Grenzezur Entwicklungvon intelligenten Sehmaschinen überschritten, wir kennenbereits Videoüberwachungsanlagen und Satelitten, die selber fokussierenkönnen, allen voran jene während des Golfkriegs immer wiedergezeigten Raketen, die durch Zielerkennung und eigene Kurskorrektur inder Lage sind, uns eine Bombe direkt in den Briefkasten zu werfen. Daszweite Problem des Wahrnehmungskonstrukteurs ist die Starrheit und Unbeweglichkeitdieses Beobachtungsmodells. Das Objekt darf sich nicht bewegen, sonst verrutschendie Koordinaten auf der Schnittebene, der Betrachter darf sich aber auchnicht bewegen, sonst verschiebt sich sein Blickwinkel. Das ist unerträglichund der Konstrukteur fragt sich, wie das Ganze denn zu bewegen ist. Den entscheidenden Schritt nach vorne hat natürlich der Film gebracht,indem er viele dieser einzeln unbeweglichen Bilder hintereinanderschaltete,aber die Vorarbeiten leisteten zwei Fotographen zeitgleich und unabhängigvoneinander.
Der eine war Etienne Jules Marey, von Haus aus Physiologe, der eineArt Fotoschießgewehr entwickelt hat, wobei er mit mehreren Objektiveneine Fotoplatte mehrfach belichtete und so einfache Bewgungsabläufein sich überlagernden Sequenzen erhielt. Er beeinflußte Duchampsund mehr noch die Futuristen. Wo viel gesprungen wird, müssen auch viele fallen. Hitchcock hatin den beiden Filmen »Fenster zum Hof« und »Vertigo«diesen Zusammenhang sehr subtil herausgestellt. In dem ersten treffen wirden Fotographen als Spanner, der durch einen Berufsunfall unbeweglich wurdeund der am Schluß des Films logischerweise aus der Konstruktion,sprich aus dem Fenster fallen muß. Der Mörder auf der anderenSeite hatte zurückgeblickt, und auch ein letzter Versuch, diesen durchBlendung am Zurückblicken zu hindern, nützte nichts mehr. Köln, 1991 |