Hartmut Zänder

Die Probleme des Konstrukteurs

Katalogtext

Dieser Text soll eine bestimmte Wahrnehmungshaltung skizzieren, dieich perspektivisch nenne, die normalerweise als natürlich und selbstverständlichgenommen wird, deren historische Gemachtheit ich hier aber herausstellenmöchte. Diese perspektivische Haltung tritt überall dort in Kraft,wo wir mit Apparaten auf das Lebendige schauen, also bei Fotographie, Film,Computer, Fernsehen, in der modernen Medizin und der Kriegstechnik. Konstrukteuremöchte ich hier all jene nennen, die an der Vorbereitung, den nötigenErfindungen, aber auch der Handhabung dieser Wahrnehmungskonstruktion beteiligtwaren. Dazu gehören ebenso Philosophen, Optiker, Architekten, Ärzte,Ingenieure und Künstler wie auch all die "Benutzer" der modernen Apparate,die über eine Bild- oder Schnittfläche verfügen. Die Geschichtedieser Apparate liest sich nicht nur als eine Reihe von technischen Problemen,die entweder zu Erfindungen führten oder als Flops endeten, sondernvor allem als Erprobung und Durchsetzung eines bestimmten Weltverständnisses,einer bestimmten Auffassung vom Wahrnehmen der Wirklichkeit.

Einer solchen Auffassung möchte ich an dieser Stelle folgen undtue dies nicht als "Wissenschaftler", der seine Behauptungen durch Beweisebelegen muß, sondern als "Mitwisser", der Hinweise gibt auf Zusammenhänge,die nach meiner Auffassung für jedermann ersichtlich sind.

Alles Vorgeschichtliche ist nur vermutbar. Es müssen aber denersten diskutierbaren Auffassungen einige Denkauffälligkeiten undÄrgernisse vorangegangen sein wie zum Beispiel das berühmte Philosophenerstaunendarüber, daß "es überhaupt etwas gibt und nicht vielmehrnichts!". Oder die Verwunderung über die Erkenntnis, daß esDinge zweimal gibt, einmal als etwas außerhalb von uns und gleichzeitigals Denkgestalt in uns. Oder die Hilflosigkeit angesichts der paradoxenTatsache, daß wir als reale Winzigkeit vollkommen abhängig vonallem Realem um uns herum umfaßt sind, in unserem Sehen und Denkenjedoch dieses Verhältnis auf den Kopf stellen und alles Ersichtlicheselbst umfassen können. Was mich interessiert, ist die Frage nachdem Verständnis von "Sehen" und wie es sich im Laufe unserer Geschichteformuliert hat. Also nicht die Philosophenfrage nach der Wahrheit, diesich begrifflich in der Satzkonstruktion "Subjekt-Prädikat-Objekt"auszulegen versuchte, sondern die Praxisfrage nach dem Verhältnis"Wahrnehmender-Wahrnehmung-Wahrgenommenes". Eine der grundlegendsten Auffassungen,wie dieses Verhältnis zu verstehen sei, liefert uns Euklid in seinerOptiksammlung. Wahrnehmung konstruiert sich dort als ein Auge, das überunzählige Sehstrahlen mit den Dingen verbunden ist, wobei das Sehfelddie Gestalt einer Pyramide erhält, in deren Spitze das Auge steckt.In dem Bild der Sehstrahlen schwingen mit Sicherheit noch ältere Auffassungenaus magischen Zeiten mit wie z.B. die Vorstellung, die Sehstrahlen gingenvom Auge aus, können bohren, bannen und töten oder auch die umgekehrteIdee, daß Blicke auf verbotene, mit einem Tabu belegte Dinge nichtohne Folgen bleiben. Da, wo es um einen lebendigen Kontakt geht, bewertenwir auch heute noch nach einem ungeschriebenen Blickkatalog die unterschiedlichenBlicke nach dem Grad ihrer Aggressivität, Dreistigkeit oder Unverschämtheit.Die lebendige menschliche Wahrnehmung ist randvoll mit persönlichemInteresse, Engagement, mit Berechnung und blinden Flecken. Deshalb istes logisch, daß da, wo die Griechen den Versuch starteten, sich dasSehen in einer bildhaften Form deutlich zu machen, sozusagen eine Wahrnehmungskonstruktionpur zu erhalten, sie zugleich den Faktor "Mensch" eliminieren mußten.Alles Menschliche wurde an den Seitenkanten der Pyramide bis auf das Augeweggeschnitten. Das Auge steht von nun an stellvertretend für denMenschen, so wie es zuvor für die Allwissenheit der verschiedenenGötter gestanden hat. Die Rechnung unseres Konstrukteurs scheint klar.Je mehr ich auf der Subjektseite wegschneide, desto mehr Objektivitäterhalte ich. Natürlich ist dies eine Milchmädchenrechnung, denneinmal kann man aus einem Beziehungspaar nicht einen Teil wegschneiden,ohne edas Ganze zu zerstören, zum anderen ist da auch immer noch derMensch, der mit dieser Konstruktion etwas vorhat. Sie soll ihm ja dazudienen, das Land zu vermessen, Städte zu bauen, die Navigation zuregeln und ihm womöglich neue Blicke auf bislang Ungesehenes zu eröffnen.

Der griechische Konstrukteur kann schon alle Proportionen berechnenund hätte mit Leichtigkeit eine vollständige Perspektivenlehreentwickeln können, hat aber die Beziehung zwischen Auge und Ding nochoffengelassen. So können in dieser Konstruktion die Dinge noch zurückblickenund so muß ein möglicher Respekt noch mit eingerechnet werden.Das Zurückblickenkönnen der Dinge gehört in den Bereichdes lebendigen Blickaustauschs, bei dem sich jeder für Veränderungenaufs Spiel setzt. Verändert zu werden kann natürlich nicht imInteresse des Konstrukteurs liegen, er will ja selbst alles handhaben,über alles verfügen und seinem Programm gemäß umgestalten.Deshalb mußte noch etwas Entscheidendes hinzugefügt werden.Es war nicht genug, nur den Großteil an menschlichem Interesse wegzuschneiden,es bedurfte noch eines zusätzlichen Schnitts quer durch die Sehpyramide,der ein für allemal die abendländische Trennung von Subjekt undObjekt besiegelte.


Dieser neue Schnitt wurde in der Renaissance in tatsächlichenKonstruktionen ausprobiert. da wurden Kästen gebaut mit Türen,durch die man Schnüre spannen konnte, die mit einem verschiebbarenKoordinatenkreuz markiert wurden oder gerasterte Fenster, bei denen manKästchen für Kästchen etwas abzeichnen konnte . Die neueSchnittebene hatte die Funktion eines Fensters, so wie Leon Battista Albertiprogrammatisch forderte, daß "die Malerei so sein sollte wie einFenster, durch das wir auf einen Ausschnitt der Welt blicken können".Die vollständige perspektivische Konstruktion sah nun so aus: Dieeuklidsche Pyramide ist spiegelbildlich gedoppelt und vorne mit einer ArtFenster versehen, auf dem man alles Dahinterliegende proportional verrechnenkann. Die Konstruktion der Wahrnehmung ist zu einem Kasten geworden, inden man hineingucken kann. Der Konstrukteur hat sich somit einen altenKindertraum aus seiner Zeit als Jäger erfüllt, im sicheren Hinterhaltzu liegen, sehen, ohne gesehen zu werden, treffen, ohne selbst getroffenzu werden. Aber der Konstrukteur hat noch Probleme mit diesem kristallinenKasten. Besieht man sich z.B. die bekannte Graphik von Dürer: "DerZeichner des liegenden Weibes", so fällt sofort ihre Unbeweglichkeitauf. Der Zeichner muß über einen Obelisken visieren, um denAugpunkt fest zu definieren, das sich ihm gegenüber räkelndeWeib darf auch nicht wackeln, wenn die Linien im Raster sich nicht verschiebensollen. Will man ein neues Bild erhalten, so muß die komplette Konstruktionneu aufgebaut werden, der Augpunkt neu fixiert, ein neuer Sehstrahl eingestelltwerden. Das heißt, bei dieser Konstruktion kann es keine fließendenÜbergänge geben, jede Bildveränderung muß sprunghaftsein. Dieses Problem wird aber erst mit der Entwicklung des Films bearbeitet.Zunächst mußte die Kastenkonstruktion ausprobiert werden mitder camera obscura, später mit dem Fotoapparat und den Panoramahäusern.
Die Erfindung der Fotographie hat unsere Konstruktion in ein Ding gepackt,das von seiner Logik her von alleine funktionieren kann, wobei uns nurnoch die Rolle eines "Auslösers" zufällt. Das Fotographierenmacht aus allem ein Objekt, mit dem sich niemand mehr real verbunden zufühlen braucht. Der Fotoapparat schützt vor dem Zurückblickender Dinge. Götter, Geister und böse Blicke sind nicht mehr zubfürchten, deshalb wird alles technisch fotographierbare auch tatsächlichohne Ansehen der Person fotographiert. Fotographie und alle Folgeverfahrensind grundsätzlich rücksichtslos. Darüber kann auch nichtder überaus höfliche Umgangston non zum Beispiel Urlaubsfotographenhinwegtäuschen, die sich gegenseitig den Vortritt, aufeinander warten,unter dem Fotographierendem wegtauchen oder einem Wildfremden den eigenenApparat anvertrauen, um sich gegenseitig zu knipsen.

Wir leben nicht nur in einer Zeit der versteckten kamera, auf vieleFotographen wirkt der Apparat wie eine Tarnkappe, die sie vollständigunsichtbar macht. Bei dem Bild des Fotographen haben wir noch einen gutenPackan, wenn es darum geht, uns unsere Wahrnehmungskonstruktion sinnfälligzu machen. Hinter dem Apparat steht ja noch ein Mensch. Inzwischen istjedoch schon die Grenze zur Entwicklung von intelligenten SEhmaschinenüberschritten. Wir kennen bereits Video-Überwachungsanlagen undSatelliten, die selber fokussieren können, allen voran jene währenddes Golfkriegs immer wieder gezeigten Raketen, die durch Zielerkennungund eigene Kurskorrektur in der Lage sind, uns eine Bombe direkt in denBriefkasten zu werfen.

Der Dürersche Zeichner hat es noch mit drei verschiedenen Fokussierungenzu tun, der auf die Frau, auf seine Rasterscheibe und und auf seine Zeichnung.Aber die Konstrukteure der Renaissance glaubten ja noch, sie würdendurch Fenster auf Wirkliches schauen. Wir brauchen heute nur noch eineFokussierung auf eine Schnittfläche, die immer noch Fenster genanntwird ("windows" in der Computersprache) auf der wir das Wirkliche simulieren,verrechnen und verhandeln, durch die wir aber nicht mehr hindurchschauenkönnen. Wir schauen nurmehr auf Fenster . Deshalb können wirheute nicht mehr sicher sein, ob das, was wir auf unseren Schnittflächenvorfinden, noch mit dem tatsächlichen Bestand an Wirklichkeit übereinstimmt.Den entscheidenen Sprung nach vorne hat natürlich der Film gemacht,indem er viele dieser einzeln unbeweglichen Bilder hintereinanderschaltete,aber die Vorarbeiten leisteten zwei Fotographen zeitgleich unabhängigvoneinander. Der eine war Etienne-Jules Marey, von Haus aus Physiologe,der eine Art Foto-Schießgewehr mit einer Trommel aus Objektiven entwickelthat, wobei er eine Fotoplatte mehrfach belichtete und so einfache Bewegungsabläufein sich überlagernden Sequenzen erhielt. Er beeinflußte Duchampsund mehr noch die Futuristen. Der andere war Eadweard Muybridge, der zehnKameras sequentiell hintereinanderschaltete und vor einer schwarzen Rasterwandseine Tiere und nackten Zirkusleute herumspringen ließ. Auch er hatviele Künstler angeregt, Max Ernst oder Francis Bacon, neuerdingstaucht er durch die Möglichkeiten der Computeranimation selbt in Musikvideoclipsauf oder auch in dem letzten Greenaway-Film: Prosperos Bücher. Wasmerkwürdig zusammenfällt, ist die Tatsache, daß unsereBewegung von Einzelbild zu Einzelbild sprunghaft sein muß, damitdie Illusion einer Objektbewegung überhaupt entsteht, daß aberauch alle Vorläufer des Kinos sich für den SPRUNG und fürSpringende interessiert haben, auch die frühen Erbauer von jenen drehbaren,kleinen Heimkinos mit den Schlitzen drin. Die Liebe zur wilden Springlebendigkeitauf der Objektseite und das sprunghafte Benehmen auf der Subjektseite scheinenmir eng zusammen zu gehören.

Der Konstrukteur hat etwas vor. Er möchte selber springen oderwie beim Militär springen lassen, also sprengen. Wo viel gesprungenwird, müssen auch viele fallen. Hitchcock hat in den beiden Filmen"Fenster zum Hof" und "Vertigo" diesen Zusammenhang sehr subtil herausgestellt.In dem ersten treffen wir den Fotographen als Spanner, der durch einenBerufsunfall unbeweglich wurde und der am Schluß deshalb logischerweiseaus der Konstruktion, sprich aus dem Fenster fallen muß. Der Mörderauf der anderen Seite hatte zurückgeblickt und auch ein letzter Versuch,diesen durch Blendung zurückzuhalten, nützte nichts mehr . Indem Film "Vertigo" geht es von Beginn an um die Angst vor dem Fall, ausgelöstdurch einen Sprung über den Abgrund . Dies war Hitchcock so wichtig,daß er für vier Sekunden Film mehr als 20000 Dollar ausgab,indem er extra eine Treppenhauskonstruktion im Studio nochbauen ließ,nur um eine bildhafte Fassung dieses Schwindelgefühls durch eine Gegenbewegungvon Zoom und fahrbarer Kamera zu erhalten.

Zänder , Köln 7.92

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