Hartmut
Zänder
MRCA: most recent common ancestor
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Das Internet, das zumindest virtuell alle User dieses Planeten zusammenbindenkönnte, hat in den wenigen Jahren seines Bestehens einige neue Motivehervorgebracht, an denen sich zeitgenössische Themen entzündenund entfalten können. Mit den EYEBALLS, dem ersten visuellen Computerprogrammüberhaupt, hat der User vor dem Bildschirm sich ein Instrument geschaffen,das ihn aus der Einsamkeit der Programmierebene, der DOS- oder ASCII-ebeneherausgeholt hat, das ihm die Gegenwart eines "Hereinschauenden" bescherthat und gleichzeitig einen Stellvertreter, der auch da noch hinter dieKulissen gucken darf, wo er selbst schon erschöpft auf die Matte gesunkenist.
Somit verweisen die jüngsten Augenpaare auf die lange Reihe ihrerVorfahren, auf die imaginäre Blickesammlung in den Ahnengalerien,den Heiligenikonen, den hereinblickenden Göttern aus Griechenlandoder Ägypten, die das allsehende AUGE entwickelt haben. Sind sie alle dieVorfahren für die heutigen EYEBALLS oder läßt sich ihrjüngster gemeinsamer Vorfahr noch genauer bestimmen.
Die ersten Städtekulturen, die einen vieltausendköpfigenVerwaltungsapparat nötig machten, entstanden in Mesopotamien und entfachteneinen ersten Bauboom, einen effektiven Kriegsapparat, ein komplexes Kanalisations-und Versorgungssytem und ein geschäftiges Tempelwesen. Zum erstenMal in der Geschichte sah sich der Einzelne einer undurchschaubaren Gesellschaftsstrukturgegenüber. In den Zeiten zuvor, als es noch darum ging, in einem dörflichenoder umherziehenden Gemeinwesen ein neues Bauprojekt von zeitlich begrenzterDauer zu platzieren, konnte der Einzelne die Gewißheit haben, daßalle seine Mitarbeiter mit ihm zusammen die Axt am Abend weglegen. Wenner schläft, schlafen alle anderen ebenso.
Dies gilt in den neuen Metropolen Ur und Uruk - und allen darauf folgenden- nicht mehr. Der Einzelne verliert den Überblick. Wenn er vor Erschöpfungauf die Matte sinkt, geht der Betrieb im Schichtdienst in unverminderterStärke weiter. Er kann nicht mehr in vollem Umfang wissen, was überallan Neuem gebaut wird und vor allem - wer nichts weiß, kann nichtmitreden.
Eine neue Führungsschicht hat sich über das Gemeinwesen erhobenmit einer furchteinflößenden Streitmacht, einer Priesterkasteund einem Beamtenstab, der minutiös jeden Ziegelstein und jedes KörnchenWeizen registriert. Sie Alle verlangen Respekt und Gehorsam, augenfälligin den jetzt gültigen Göttern Marduk, Isthar und allen anderen.Diesen Respekt kann ein einzelner Mensch an einem Tag, in einem Jahr, indem einem Leben nicht mehr erbringen.
Und so entsteht auf diesem Globus die erste Massenproduktion von kleinenTonfigürchen, die als Stellvertreter und Platzhalter zu Tausendendie privaten Hausaltäre und öffentlichen Tempelbezirke bevölkern.Die spätere Kunstgeschichte wird sie einmal IDOLE nennen. Sie bestehenaus nichts anderem als einem einfachen zylindrischen Rumpf und anstelleeines kompletten Kopfs thront auf ihm ein reines ausladendes Augenpaar,der heutigen Vorstellung von ALIENS nicht unähnlich. Sie sind finger-bis handgroß und können auf dem einen Leib nicht bloßeinzelne Figuren, sondern Paare und sogar ganze Familien darstellen. Manchetragen Hüte, die ihren Beruf oder Herkunft belegen.
In diesen Augenpaarfigürchen hat sich das sumerische Volk aufeiner neuen Metaebene gedoppelt und es sind diese Dummies, stellvertretendfür ihre Besitzer die riesigen Augen dauerhaft offenhaltend, die nuneinerseits den Göttern den gebührenden Respekt zollen und überdiesalles, was ringsum gebaut wird, rund um die Uhr registrieren können.
Diese IDOLE erscheinen heute in den zahllosen EYEBALLS des Internetwieder, auch wenn sie und die ihnen verwandten Webcams das allgemeine Unbehagendarüber, daß unsere lebendigen Augäpfel nurmehr als numerischerKlick, als kommerzielle Quote wahrnehmbar sind, nur oberflächig cachierenkann.
Aus kulturhistorischer Sicht läßt sich sagen, daßdie sumerischen IDOLE, etwa 6 - 7 tausend Jahre alt, für all die modernenEYEBALLS, webcams, pokemonballs, Detektei- und Götteraugen, fürTürspione und Spannerkameras der jüngste gemeinsame Vorfahr sind.Auf englisch heißt dieser: "most recent common ancestor" - kurz:MRCA.
Obwohl ein genuin genetischer Begriff, für die biologische Evolutionder menschlichen Spezies entwickelt, entpuppt er sich bei näheremHinsehen als eminent kulturpolitisch, entzünden sich an ihm doch dieunterschiedlichsten streitbaren Geistern. Es geht immer um einen Vorfahran einer qualitativen Grenze, an einem Split: den gemeinsamen Urahn vonMenschen und Menschenaffen, etwas früher als 4,5 Millionen Jahren,den von Homo erectus und anderen Hominiden vor ca. 2 Millionen Jahren,den von Peking-, Javamenschen und Neanderthaler vor etwa 550 tausend Jahrenund den wohl wichtigsten, den Prototyp des homo sapiens sapiens, der dieallermodernste Version markiert. Weniger die Evidenz der aktuellen Befundlagevon Schädeln und Knochen, die zusammen mal gerade einen Kleinwagenfüllen würden, als das fieberhafte Rooting der neuen genetischenModedisziplinen, die sich auf die Mutationen entweder der paternalen Y-Chromosomenoder der maternalen Mitochondrien stürzten, haben diesen jüngstengemeinsamen Vorfahr auf ca. 160 000 Jahre festgelegt, entstanden irgendwoin Ostafrika, womöglich identisch mit HOMO IDALTU, kürzlich inÄthiopien gefunden. Alle heutigen Menschen sollen von diesem MRCA abstammenund deshalb wurde unsere gemeinsame Klanmutter auch gleich "mitochondrialeEva" getauft, was sogleich den antiwissenschaftlichen Fundamentalismusder Kreationisten geweckt hat.
Der Split der Menschenrassen, obwohl seit der Initialzündung desersten Neanderthalfundes 1856 beständig hin und her geschoben undneu positioniert, scheint die nötige Größe gewesen zu sein,um so etwas wie einen qualitativen Sprung in der Evolution anzusiedeln,um die Höherwertigkeit, Überlegenheit und Modernität desHomo sapiens zu verankern.
Die entscheidende Frage dabei ist: Warum braucht es unbedingt Treppenin der Evolution, wie von außen gemacht? Warum genügt es nicht,eine genaue Beschreibung interaktiver Allmählichkeiten aufzulisten,um bei wechselnden Isolationen bald diesen, bald jenen Menschentypus alsetwas neues, eigenes feststellen zu können? Es scheint äußerstschwer zu sein, von dem kindlichen Wunsch nach einem geheimen Schöpfungsplan,der zwangsläufig und programmgemäß zu immer besseren undhöheren Formen führt, abzurücken.
In den letzten Jahren entstanden eine Vielzahl neuer Filme überUrmenschen, die alle bei wechselhafter Qualität nicht müde werden,irgendeinen entscheidenden Grund für die prinzipielle Überlegenheitdes HSS herauszustellen. Greifen altbekannte Stereotype wie die des werkzeugschaffenden,sich mitteilenden oder jagenden Menschen nicht mehr (dies läßtsich inzwischen mit gleichem Recht von Schimpansen sagen), so werden ebenneue eingeführt wie z.B. die des kreativen Menschen, der wie ein UnternehmerVisionen schafft. Zwei Dinge sind es vor allem, die den Fokus des Interessesauf sich ziehen - dies ist zum einen die Grenze zur Wildnis, die beständigeinzureissen droht, um unser brutales Innerstes nach aussen zu stülpen.Diese Wildnis bleibt unter der jüngsten allzu dünnen Decke derZivilisation stetig virulent. Das zweite ist der unternehmerische Visinärvom Schlage Bill Gates, der mit einem starken Team, einer amerikanischenFootballmannschaft nicht unähnlich, aller Recht der Welt an sich reißt,um seine imperialen Profitideen in die Tat umzusetzen. Nicht die kulturschaffendenund sozialen Kompetenzen stehen in diesen Filmen im Vordergrund, sondernhauptsächlich die Jagdszenen, die Anführerkämpfe und dasdaraus resultierende Rechte, sich die besten Weibchen auszusuchen. Daßsich die meisten Altvorderen zudem recht hellhäutig zeigen, solltedeshalb nicht wundern, scheint sich die postulierte Überlegenheitder Hellhautkulturen so immer wieder nachträglich legitimieren zulassen, was eine der wesentlichen Antriebsfedern für diese Art derGeschichtsverfälschung zu sein scheint.
Nach zwei Millionen Nomadentum des Homo erectus, pekiniensis, javensis,florensis, praesapiens, sapiens und sapiens sapiens scheint die recht kurzePhase der Besiedlungen und Kolonialisierungen allmählich zum Stillstandgekommen zu sein, wobei die Fülle ihrer Grausamkeiten wohl weitgehendungeahndet bleiben wird, ohne dabei entscheidend aufzuhören.
Doch längst ist ein neues Land entdeckt, in dem sich lukrativeClaims abstecken lassen, nämlich das grosse Reich der Quellcodes,deren Besitz sich patentieren und somit lizensieren läßt. Diesgeht weit über die herkömmlichen Land- und Stadtrechte hinaus.Nicht Immobilienbesitz oder Schürf- und Abholzrechte rangieren hieran erster Stelle, sondern der rechtliche Zugriff auf einen Quellcodeschnipsel,sei dies ein Stückchen Computersoftware oder aber ein Teil einer genetischenBasenfolge.
Der genetische Code ist inzwischen komplett aufgeschrieben, wenn auchnoch weitgehend unverstanden und die Pharmariesen, die diesen ersten großenScan vorfinanziert haben, sind schon fleissig dabei, diesen leckeren Genkuchenin profitable und lizensierfähige Eigentumstücke umzuwandeln.Der Tag scheint nicht mehr fern, wo einer der globalen Korzernmultis inden Kongo reist, um von einem ahnungslosen Pygmäen Lizenzgebührenfür einen genetischen Quellcode einzutreiben, den er in seiner ureigenenLangsamkeit anzumelden vergessen hat.
Es gibt heute zwei konkurrierende Konzeptionen der Globalisierung,die weiter kaum auseinander liegen können, erkennbar an ihren jeweiligenLeitwerten PROFIT und RESPEKT. Eine respektvolle Form des Globalen, wiesie z.B. der Naturforscher A. von Humboldt vertrat, muß von vornhereinalle Formen des Rassismus und der Versklavung ablehnen, kann sich nichthybrid und missionarisch auf der ganzen Welt ausbreiten und die eigeneÜberlegenheit postulieren. Vielleicht wird eine solche Haltung, dieauf eine Kultur des Respekts aus ist, für immer im Abseits steckenbleiben, als naiv frommer Wunsch belächelt, ist sie doch ungleichschwerer durchzusetzen als die Hatz auf schnellen Profit, die sich heutedem Motto "Transgen statt indigen" verschrieben hat, egal, ob es sich umGetreidesorten, Programmierbruchstücke oder eben ganze Leute handelt.Die lebendige Vielfalt dessen, was langsam gewachsen ist, als schönund wertvoll zu erachten schließt seine profitfixierte Verdrängungund Ausrottung aus.
Ahnenkult hat im Internet wie auch früher schon Hochkultur. Entlangden väterlichen Namen werden Portale zur Genealogie sowie Privatseiteneröffnet. Das Interesse an den Vorfahren ist legitim, will doch niemanddie Bürde der Singularität alleine auf sich nehmen, sondern gewollterund sinnvoller Teil einer langen Reihe sein. Dies hat nichts mit altenTotenkulten zu tun, von denen die meisten wohl sicherstellen wollten, daßder Tote auch ja nicht wiederkommt - auch nicht mit der geriatrischen Übermachtin den Industrieländern, die zwar über eine erquickliche Rente,nicht immer aber über die Akzeptanz und den Respekt der Jugendwahngenerationverfügt.
Die neuen Ahnengalerien werden eher virtueller Natur sein, werden diemodernen Möglichkeiten der Genetik zu neuen sozialen WEBverbindungennutzen, werden stolz auf T-shirts die Zugehörigkeit zum Ursula-, zumIna- oder Laraklan verkünden, was ich in der nächsten Sammlungvon Haplogruppentypen zusammenzufassen suche.

Köln, im Dezember 2004

 
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