Hartmut Zänder
»Schule der Springlebendigkeit«

»Laß springen, Leni!«



"Von der Bücherverbrennung haben wir nichts erfahren, denn es gab damals noch kein Fernsehen."
Riefenstahl in dem Film von Ray Müller.

Es sind zwei Interessenstränge, die eine imaginäre "Schuleder Springlebendigkeit" versorgen. Der eine ist eher konkret und blicktauf das Gesamtrepertoire der Sprungmuster, wie sie in die jeweiligen Zusammenhängeaus Religion, Sport, Tanz, Zirkus, Gesundheitsratgeber und Kunst eingebundensind. Zu sehen sind sie in Enzyklopädien, Bildwörterbüchern,Werbung, Filmen und den speziellen Sachbüchern. Der Gesamtbestand dieserMuster, die natürlich nicht jedem zugänglich sind, wird von Zeitzu Zeit durch Innovationen erweitert, die inzwischen meist den Namen desErfinders tragen. Der Sprung auf den Stuhl des Clowns Grock, der Fosbury-Flop,der Yamashita-Sprung, der Salcho und andere. Ein definierbarer Sprung wiedie genannten dient als Muster, das Schulung, Übung und Wiederholungermöglicht.
Mehr als dieser konkrete Aspekt der technischen Reproduzierbarkeit interessiertmich bei diesen VorBildern eine eher abstrakte, semantische Betrachtung.Was bedeutet eine Geste, eine Pose, eine Haltung oder Bewegungsgestalt fürdas Verstehen der "menschlichen Bedingung". Die verschiedenenFormen des "In-der-Welt-seins" finden wir nicht nur im philosophischenKontext, sondern können sie gerade in Religion, Kunst oder dem schöpferischenAlltag richtig angucken und dann entscheiden, ob das etwas für unsist.
Jeder neue Sprung ist auch eine weitere Variante unserer Stellung im Kosmos.Die modernen Formen, das trudelnde "Lost-in-space", der Bungee-Sprung,das U-Bahnsurfen, das stage-diving, channel-hopping sind für die Springerhöchstbedeutende existentielle Möglichkeiten, die das Leben entschiedenverändern sollen. Das Springenkönnen ist für jedes KleinkindAusweis seines vitalen Fortschritts (eine Stufe mehr) sowie Ausdruck purerLebensfreude.
All die vitalen Bilder von Sprüngen sind gegen die Hinfälligkeitdes Lebens gesetzt. Die Formen des Fallens, des Stürzens sind gültigeGegenbilder der Sprünge. Der Fall der Blinden, der Soldaten, Mädchen,der Mauer erinnern an die Seite des Lebens, die alle vor sich haben. Auchdiese Formen wollen entwickelt und vorgestellt werden. Der Sturz des Ikarus,die gefallenen Engel und Höllenstürze warnen ebenso vor hybridenBewegungen wie die Fallanleitungen der Slapstickmeister. Oft gehen beideineinander über oder bilden eine Synthese wie beim Fallschirmsprungoder beim Turmspringen.
Der Film scheint ein eigenes Verhältnis zum Sprung zu haben, nichtnur, weil das Springen, Gleiten, Schweben, Fliegen und Stürzen zu seinenLieblingsmotiven gehört, inklusive dem Anspringen von Autos und demSeitensprung.
Die Logik der perspektivischen Wahrnehmungskonstruktion braucht den Sprung,weil sie selbst starr, kristallin und unbeweglich ist. Sie hat das betrachteteObjekt durch die Schnittstelle der Kamera dem verbindlichen Kontakt desausgesperrten Betrachters entzogen. Diese abendländische Subjekt-Objekttrennung,dieser Abgrund hinterläßt einen sehnsuchtsvollen Sog und istnur durch einen Sprung zu überbrücken.
Die Perspektive muß beim Film für jedes Bildchen neu aufgebautwerden, soll ein Bewegungseindruck entstehen und dies kann ebenfalls nursprunghaft geschehen.
Die Steigerung des Springens ist das Sprengen, was eigentlich so viel heißtwie Springen-lassen oder -machen. Zu dieser weiterführenden "Schuleder Sprenglebendigkeit" liegen bereits 120 Zeichnungen zu allenJames Bondfilmen vor.
Zu meiner "Schule der Springlebendigkeit" gehört die Auseinandersetzungmit Buster Keaton, Werbebeispiele, Sumoringer sowie einige A. Schwarzeneggerfilme.Ganz zentral aber von Anfang an standen die beiden Olympiafilme der LeniRiefenstahl. Auch ihre anderen Filme, eigene oder die, in welchen sie alsSchauspielerin mitwirkte, sind für mich nicht allzu weit vom Themaentfernt. Ihre filmgeschichtliche Leistung ist unbestritten, ihre geistigeHaltung dagegen nicht. Sie gilt, vor allem in Deutschland, als Propagandafilmerin,als Hitlerliebchen (Augstein), als Verfechterin eines faschistischen Körperkults(S.Sonntag). Es soll hier kurz auf die seit Kriegsende bis heute immer gleichenVorwürfe eingegangen werden, die zwar nicht dem Gesetz nach, aber dochfaktisch weitgehend ein Berufsverbot bedeuteten, das die Filmerin verbittertund streitlustig gemacht hat.
Zur Eröffnung der Olympiade 1996 strahlte der Kanal ARTE ihre beidenFilme von 1936 aus, wieder mit großen Zeigefingern, mal hoch erhoben,mal vernichtend anklagend. Die Ankündigung des 1972 in Münchengedrehten Kontrastfilms "Visions of eight" enthielt den Hinweis,hier sehe man, was L. Riefenstahl gefehlt habe, nämlich der Blick aufden "individuellen Menschen". Doch genau das ist Kokolores. DenFilmemachern von 72 war noch weniger am Individuum gelegen, nannten siedoch noch nicht einmal die Namen der Sportler. Sie waren persönlichenImpressionen und den ästhetischen Fragestellungen der 70er Jahre verpflichtet,der Unschärfe, der zufälligen, oft schlechten Beleuchtung, derKörnigkeit. Sie erweiterten das Kunstreich der Ideen und Muster umdie schlabbernde Gesichtsmuskulatur bei den Läufen in extremer Zeitlupe,um kontrapunktierende Gegenschnitte auf Hähnchenberge und wackelndeDirndlausschnitte und rückten die Stürze oder Emotionsausbrücheder Verlierer in den Brennpunkt ihres Kamerainteresses.
Wer Filme macht, unterliegt den Bedingungen seines Mediums und mußsich um Beleuchtung, Schnitte und Choreographie kümmern, will er ungewöhnlicheund neue Bilder formulieren. Daß die Vorwürfe gegen L. Riefenstahlauch in einer Zeit nicht verstummen, die in noch viel höherem Maßeals sie dem Sieger und seinem schönen, jugendlichen Körper huldigt,scheint doch bedenkenswert. In Videoclips, zahllosen Werbespots und einemWald von Fitness- und Modelzeitschriften werden Körper gezeigt, vondenen die Riefenstahl nur träumen kann. Bei dem heutigen gesteigertenZuschauer- und Sponsorinteresse ist dies alles sogar weitaus umfassendermöglich. Die Idee, aus einer Steinskulptur einen lebendigen Diskuswerferagieren zu lassen, mußte L. Riefenstahl noch mit dem Filmtrick "Überblendung"angehen. Bei dem offiziellen Olympiaspot in Atlanta `96 ist derselbe Einfallnatürlich auf den digitalen Punkt gebracht. Mit Morphingtechnik platztder Werfer aus dem Stein heraus und läßt den Diskus gegen mehrereSchnittstellen mit anderen Sportarten prallen oder durch sie hindurchrasen.Nein, an der seit einem halben Jahrhundert festgefressenen Polarisierungihrer Arbeit, hier geniale Filmtechnik, dort faschistische Person und Propagandaist grundsätzlich etwas faul. Darin präsentiert sich einerseitsdie Behauptung, Filmtechnik sei an sich neutral und objektiv, genauso wieGentechnik oder Atomtechnik, man müsse nur darauf achten, daßsie nicht in falsche Hände gerate. Haben die faschistischen Machthabereine harmlose, moderne Technik für ihre Zwecke mißbraucht oderhaben sie darin nicht vielmehr eine Wesensverwandschaft erblickt?
Am Ende des Filmjahrhundertzs, in dem sie eine herausragende Rolle spielte,sollten die Fragen vielleicht anders gestellt werden. Nicht ihre Liebe zumLebendigen, zum schönen, kraftvollen Körper sollte man ihr vorwerfen,was sollte daran schlecht sein, sondern ihre kritiklose Verherrlichung derFilmtechnik. Der Film kommt, wie die Fotographie zuvor, nicht aus der Logikder perspektivischen Wahrnehmung heraus. Der Blick durch eine Kamera istvon vornherein ein Spannerblick, der aus etwas Lebendigem ein Objekt macht,der die Bilder der Springlebendigkeit aufgreift und darin den eigenen technischenFortschritt und seine Beschleunigung feiert. Der Vorwurf, L. Riefenstahlhabe den Menschen für den Faschismus instrumentalisiert, ist in dieserEinengung nicht haltbar, auch nicht über den Vergleich mit Propagandafilmernaus anderen Ländern wie Ejsenstein, Rossellini oder Flaherty hinaus.Wie diese hat sie mit Pathos die Verfassung des modernen Großstadtmenschenin Bilder bringen wollen. Vor der Kamera in den halsbrecherischen Naturfilmendes Arnold Fanck, die die Bildsprache der Romantik wiederbelebten (einsameund verlorene Helden in einer kalten, grandiosen, aber von Gott verlassenenNatur). Aus ihrer ersten Karriere als Ausdruckstänzerin hat sie hinterder Kamera ihre Erfahrung mit Choreographischem mitgebracht. Wollte maneiner Tänzerin ihr Interesse am Körper, seinen Haltungen und Bewegungenals faschistoid vorwerfen, müßte das komplette Ballett, der Sport,das Theater, die Kunstperformances gleich mitverdammt werden.
Das, was Autoren- oder Serienfilmer für eine vollständige imaginäre"Schule der Springlebendigkeit" beigetragen haben, spielt sichnatürlich in verschiedenen Ecken ab. L. Riefenstahl gehört nichtzu den Künstlern, die mit ironischer Brechung Gegenbilder hervorbringenso wie Buster Keaton, der Clown Grock oder Hitchcock z.B., die neben dieschönen Muster von gelungenen Sprüngen auch die Stürze, Fällesetzen, damit das gesamte Formrepertoire sich weiterentwickelt.
Mich interessieren in meiner visuellen Auseinandersetzung mit Filmischemsowohl die positiven Formulierungen von Sprungkraft, von Sprengkraft wieauch die negativen von Stürzen, von Bodenlosigkeit und Hinfälligkeit.
Niemand leugnet, auch sie selbst nicht, daß sich L. Riefenstahl mitFaschisten arrangiert hat, aber da die Eckdaten ihrer Ästhetik auchheute noch gültig sind, wird es allmählich Zeit, ihre Arbeit undderen Auswirkungen etwas differenzierter zu betrachten.
Bisher ist "Schuld" immer an ihrer Person festgemacht worden,doch dürfte sie dafür lang genug gebüßt haben. Solltenicht die Filmtechnik selbst auf den Prüfstand? Hat nicht der Blickvon Mengele und Kollegen auf Versuchspatienten, der Blick eines KZ-Aufsehersdurchs Guckloch der Gaskammer etwas mit der grundsätzlichen Wahrnehmungshaltungdes Films zu tun?
Köln, 1996



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