Hartmut Zänder

Vorbilderworte

Katalogtext

"Geh nicht so nahe ran!", hieß es in den 50er Jahren, wenn wirals Kinder alle paar Wochen bei Nachbarn die Samstagsabendshow mit Kulenkampfoder eine Eurovisionssendung gucken durften. Dazu mußte noch einzweites Licht brennen, wie nach amerikanischem vorbild die frisch gebackenenExperten forderten. Gleichzeitig Möbel und gefährliche und unheimliche"Laterna magica", mußten wir vor dem Fernseher auf Distanz gehaltenwerden. Als Kind habe ich diese Distanz rein räumlich verstanden undmich so weit wie möglich von den gefährlichen TV-Strahlen entferntgesetzt. Heute weiß ich, daß das räumliche Sehen, daswir brauchen, um abwechselnd auf unseren Zeh oder in die Sterne schauenzu können, für das Fernsehgucken unerheblich ist, für dessenVerständnis überhaupt keine Rolle spielt.
Vor dem Fernseher sind alle Leute gleich. Von Satelliten umflogen unduntereinander verkabelt gibt es inzwischen eine weltweite Gemeinschaftvon Fernsehempfängern, die alle im gleichen distanzlosen Abstand vorden Bildschirm gespannt sind. Sie alle schwimmen als Singles in dem gleichenriesigen Bilderstrom, der ohne Pause fließt, immer zugleich derselbeund doch stets anders ist.

Noch sind die Fernseher kleine Möbel, die im wirklichen Raum Platzwegnehmen neben anderen Geräten, aber bald werden wir wohl überwandgroße Bildschirme verfügen, auf denen sich alles Digitaledarstellen läßt, nicht nur Filme, sondern alle Computerangelegenheiten,Bild- und Funkkommunikation, Cyberspace-Spiele und vielleicht auch einmalbei einem gepflegten Essen zur Erinnerung ein still flimmerndes Gemäldeoder riesige Urlaubsfotos.

Das Fernsehen gehört in die Familie von Apparaten, die wir erfundenhaben, um uns ein objektives Bild der Wirklichkeit zu verschaffen. Wirsammeln die Nachrichtenbilder, errichten einen Telezoo, stellen ein imaginäresKulturmuseum zusammen, schauen live mal rein in die Kriegsschauplätzeund lassen uns von Experten und Moderatoren in Game- und Talkshows ziehen.Das Wichtigste beim Fernsehen ist die Werbung. Nicht nur, weil der Übergangzum Privatfernsehen uns klargemacht hat, daß Filme, Nachrichten undGameshows reine Lockvögel für die Beschaffung von Werbespotssind, sondern vor allem, weil die Spots uns zeigen, wie wir Fernsehen zugucken haben. Sie geben nicht bloß Auskunft über ihre Produkte,sondern zugleich Anleitungen über den Umgang mit dem Medium Fernsehen,von Arznei- und Waschmitteln einmal abgesehen. So verstanden, ist das Fernsehendie ewige frische Quelle, es öffnet Horizonte, macht den Weg frei,sorgt für Bewegung, es ist leicht und schnell zu genießen wieein Schokoriegel, spritzig wie Sekt und in der Lage, unseren großenLebensdurst sofort und nachhaltig zu löschen. Die Werbung verwaltetdie Resterbmasse der abendländischen Metaphysik mit ihren Sinnangebotenund Heldenträumen. Sie zeigt uns, wie wir die Welt im Griff habenkönnen, Berge versetzen, über Häuser springen und fliegenkönnen. Eine der aufschlußreichsten Werbeaktionen der letztenZeit waren für mich die Camel-Plakate. Ein Kamel steht in der Wüsteund glotzt auf eine fernsehblaue Bildwand mit dem Spruch "Kräftig,aber mild". Wir haben schnell verstanden, daß dieses Kamel nichtlange alleine bleiben wird, daß bald Massen von Kamelen in der Wüstestehen wird, auf die Fiktions- und Simulationsebene fixiert. Ich denke,wir verwandeln die freiwachsende Natur nach und nach in eine Wüsteund stellen sie mit Bildern voll. Das Fernsehen gerät immer mehr zueiner inflationären Währung, die immer weniger durch Wirklichkeitgedeckt ist. Wir schauen auf Landschaften, auf Tiere, auf Kulturen, diees nicht mehr gibt. Besonders die zunehmenden Reality-Shows dürftenklarmachen, daß die Schein- und Wirklichkeitsschere weiter auseinanderklaffenwird.

Nicht nur die Werbung erzieht uns zum Verständnis des Mediums,sondern das Fernsehen will uns als Ganzes zum Verständnis von Welterziehen. Es fällt aber ungeheuer schwer, herauszufinden, worauf dieseSorte Pädagogik abzielt, denn das Fernsehen ist schneller geworden,disparat und sprunghaft, es ist äußerst süffig und leichtgenießbar wie Fastfood. Deshalb gehe ich hin und halte den Bilderflußan, tauche ein und sehe nach, was da für Fische herumschwimmen, wases für Muster und Themen gibt, wie das Essen, das wir für gewöhnlichherunterschlingen, beschaffen und zubereitet ist, ob und wie es verdaulichist. So besehen, könnte man sagen, arbeite ich an einer Art "Michelin-Führer"des Fernsehens als Vorkoster und Tester. Deshalb auch nenne ich die ganze,noch unabgeschlossene Arbeit "ORBIS TELEVISIONIS PICTUS" und beziehe michdamit auf alle früheren Versuche, die weite Welt in Bildern zusammenzufassen.Mit dem Ende des Mittelalters hörte die Verbindlichkeit einer füralle gültigen Bilderwelt, einer festgelegten Ikonographie auf undmußte in immer kürzer werdenden Abständen neuen Versuchenweichen, Überschaubarkeit und Verbindlichkeit in griffigen Bildernherzustellen. Dabei wurden die Heiligenbildchen zunächst erweitertdurch Geographie- und Anatomieatlanten, durch Handwerksmusterbücher,durch Technikbücher zu Ackerbau und Viehzucht, Gartenpflege u.v.m..Nach den großen Enzyklopädien aus Frankreich und England tauchtenin Deutschland die eigentlichen Orbis Pictus-bücher auf bei Comeniusund Gailer, sehr naiv und von merkwürdig komischer Moral. Mir scheint,wir Deutschen haben einen starken Hang zu diesen Bilderordnungen, wennman bedenkt, daß über Jahrzehnte die vormals beiden deutschenStaaten weltweit die Hauptlieferanten für Bildwörterbücherwaren, der eine für die westliche, der andere für die östlicheKulturwelt. Sie unterschieden sich nur in untergeordneten sozialen undkulturellen Details, nicht aber im gleichen technischen Formverständnisvon Welt. Die Bildwörterbücher bilden keine Ist-Welt ab, sondernerfinden eine Soll-Welt, stellen ein Formrepertoire bereit, wie wir Weltverstehen und handhaben sollen. Bildanweisungen aus diesen Wörterbüchernhabe ich seit Jahren in großen Bildern eingesetzt und dabei immerdie fehlenden Seiten eines möglichen, kompletten Bildwörterbuchsmitzudenken versucht. Neben einer Schule der Springlebendigkeit eine Schuledes Stolperns und Fallens, neben die Liste der funktionierenden Gerätedie der Flops und der Unfälle. Daß ich meine Aufmerksamkeitauf das Fernsehen als eine neue Art von bewegtem, sprunghaftem Bildwörterbuchverlegt habe, hat natürlich mit dem Kabel- und Satellitenfernsehenzu tun, weil es die Möglichkeiten des Mediums zum Äußerstenbringt, seine Flüchtigkeit, seine Sensationslust, seine Unverschämtheit.
Das erste Mal habe ich 1983 eine sizilianische Quizsendung mit eingebautemHausfrauen-Strip mitgezeichnet und den Wunsch nach mehr im Hinterkopf behalten.Nach einem Hotel Pay-TV nahm ich mir im Herbst 1990 die Reihe der Fernsehbildervor, wobei ich zunächst ausschließlich vor laufendem Fernsehermitzeichnete und erst später dazu überging, das, was mich interessierte,auf Video mitzuschneiden und die Standbilder differenzierter anzugehen.

Aus der zeitweiligen Farbgebung Schwarz/Grau/Rosa bei den Tutti-Frutti-und Madonna-Streifen darf man getrost eine kleine Huldigung an Hokusaiund sein "Orbis pictus"-Buch "Hokusai-Manga" herauslesen. Nach einem anfänglichenRundumschlag und einem Training mit Musikvideoclips kamen die Golfkriegverfilmungenmit dazugehörigem Trailer und stießen mich zurück auf schonlänger gestellte Fragen nach der heute herrschenden Optik. Der CNN-Reporterin der Nacht, als Tel Aviv zum ersten Mal angegriffen wurde, brachte diesauf den Punkt, indem er über seine Gasmaske seine Brille zog, davordie Kamera hielt und sich, als es in der schwarzen Nacht nichts zu sehengab, einen Spiegel schnappte, vor ein Fensterkreuz stellte und sich selberfilmte. In der Folgezeit versuchte ich, die Bildformulierungen aufzusuchen,die mehr oder weniger beabsichtigt das Fernsehen in aller Logik als Spannerkastenausweisen konnten. Also Erotik und die Filme, die mir Stoff für einenzusammenhängenden Gedankengang boten. Was gehört alles dazu,wenn es ums Spannen, um Fotographie, um militärische Simulation geht?In "La macchina ammazzacattiva" von Rossellini oder in Powells "PeepingTom" finden wir die objektvernichtende Seite, bei Hitchcock den Schwindelüber die große Kluft zwischen Subjekt und Objekt in "Vertigo"oder die Logik des unbeweglichen Beobachters in "Fenster zum Hof", beiGreenaway die zynische Abgehobenheit und die Verurteilung zum Scheiterndes männlichen Machtanspruchs. Die Hauptprobleme des Mediums Fernsehenwaren von Beginn der 20er Jahre an Übertragungsfragen. Wie bekommeich eine Bildinformation auf Senderseite zum Empfänger? Die erstenmechanischen Versuche mit den Nipkow-Scheiben brachten kaum eine Lösung,erst die elektronischen und digitalen Kodierungen waren vielversprechend.Das "Beamen" aus Raumschiff Enterprise zeigt dieses Verfahren in allerKlarheit. Auseinandernehmen auf der Senderseite, über einen Strahlenkanalschicken und auf der Empfängerseite wieder zusammensetzen. Mir scheint,ein Großteil der 60er/70er Jahre-Debatte über Medienkritik undKommunikationstheorie hat nichts anderes als diese Fernsehproblematik verhandelt.Selbst unsere heutige therapeutelnde Alltagssprache ist noch voll von solchenFloskeln, wie ich z.B. hoffen könnte, daß meine kleine "message"auch "voll rüberkommt".

Zänder, Köln 7.92

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