»Der Fortsprung der Sehenden« oder »Der Fall der Blinden«. Filme sind zum Sehen da, besser gesagt: für die Sehenden. In deneinzelnen Filmen wird ebenso die Geschichte des Films wie auch die desSehens selbst transportiert. Bis heute gibt es allenfalls eine Geschichteder optischen Geräte, nicht aber eine Konzeptionsgeschichte der Blicke,die den modernen Alltag beherrschen und prägen. Auskünfte übergenau diese Sachverhalte habe ich mir von einer ausführlichen Betrachtungund Bearbeitung der James-Bond-Filme versprochen. Nach 120 Zeichnungenzu den ersten 15 Filmen (sprich: 360 Einzelbilder) wollte ich wissen, welcheAuswahlkriterien mich geleitet hatten und was für eine Motiv-Sammlungdabei herausspringen würde. Über eine Strichliste kam ich zuder Skizze »Der Blick des Herrschers«, die einem der großen16x9-Bildervoranging. Auf einige Themen sollen kurze fragmentarische Spots geworfenwerden, in die ein Vergleich mit Gilgamesch, dem Held aus einem der ältestenDichtung unserer Kultur eingewebt ist. Die Welt ist, was der Fall ist. Wittgenstein verstand unter einem FALL das Bestehen von Sachverhalten,FALL im grammatischen Sinn von CASUS. Wer bedenkt, daß dieses Jahrhundertvorrangig an der Sensation von FÄLLEN interessiert ist, seien diesjuristische, medizinische, detektivische oder therapeutische, möchteihm gleich recht geben, vorausgesetzt, nur ein literarisch-philosophischesVerständnis ist gültig. Ich fühle mich als Künstleraber ebenso dem anschaulischen Denken verpflichtet und nehme mir daherdie Freiheit, einen FALL wörtlich zu nehmen als etwas, das fällt,etwas, das springen möchte und es nicht schafft oder als etwas, dasvon außerhalb zum Springen gebracht wird, also gesprengt wird. Keinen Nebenbuhler hat seiner Waffen Aufbruch! »Blindgänger« wird ein Sprengkörper genannt, dernicht wie gewohnt in die Luft geht, sondern die erwartete Explosion verweigert.Eine solche Bombe gehört in die Klasse der Dinge, die ingsgesamt alsBLIND diffamiert werden und dies vielfältig. Nicht nur das Blindgehende,so wie stumpfe Spiegel, Fenster oder Blindtext rückt in die Nähedes Fallenden, sondern auch die Blinden selbst, die dem Christentum alsMetaphern der Unwissenheit, der Ungläubigkeit und des unausweichlichenScheitern- und Fallenmüssens herhielten. Wird einerseits die Vernunftim religiösen Kontext als diejenige Kraft gebrandmarkt, die tiefereGlaubenseinsicht und Erleuchtung verhindert, geraten im profanen Blickfeldgenau umgekehrt die Leidenschaften in den Bannkreis der Verblendung. Leidenschaftensind und machen blind. Wut, Haß, Liebe, Zorn und die anderen wurdenals frühe Kleinhirn-Software, dessen sich der aufgeklärte Neuzeitlereigentlich schämen sollte, als Uralt-System 0.1 und Blindgängerdiffamiert. Dabei ist es gerade die Werbung mit dem unverstellten Blickauf die Leidenschaften und ihre vielfältigen erregenden Bilder, diedem Film zu seinem durchschlagenden Erfolg verholfen haben. Es sind zwei Blicke, die sich dafür begeistern, der des »Spanners«und der des »Herrschers«. Beide kommen in den Bond-Filmen reichlichvor. Der »Blick des Herrschers«, in den französischenGärten extra für den barocken Monarchen auf ein kleines Fensterchen,seinen ureigensten »point de vue« komprimiert, sollte nachder Revolution von 1789 jedem offenstehen, der sich flanierend in den nunneuen englischen Gärten in Muße delektieren wollte. Das Bilddes Flaneurs ist längst überholt und die Räume, durch dieer einst langsam und genießerisch lustwandelte, die Alleen, Promenadenund Gärten, sie sind Spielwiese, Sportplatz und Drogentreff geworden. Der alles gesehn im Bereiche des Landes, der die Meere kannte, Jeglicheswußte, Bond ist ein Herrscher von königlicher Gestalt, aber ein Königohne Raum. Ganz im Gegenteil, er ist nur Vertreter eines kleinen Landes,ein bloß Beauftragter, Lizensierter, also ein kleiner Angestellter.Doch wenn er auch nicht über eigenes Land gebietet (hat er überhaupteine eigene Wohnung?), so ist er doch überall zu Hause, in allen Eckendes Kosmos, in der Luft, unter Wasser, im Weltraum, selbst unter der Erdeund rettet fast immer die ganze Welt, er ist ein wahrer Weltenerlöser.So stehen ihm alle Schau- und Spielplätze offen, jedwede Grenze darfer überschreiten, selbst die des Todes, was ja den übrigen Sterblichenverwehrt ist. Daß dazu meist die unglaublichsten und waghalsigstenManöver nötig sind, versteht sich von selbst. Mit all seinenVermögen steht Bond in der altehrwürdigen Tradition des mythischenHelden, er verfügt über umfassendes Wissen, Topfitness, unschlagbareWaffen, unwiderstehlichen Charme und einen Witz, um selbst die Götterauszutricksen. Für Gilgamesch, den König von Uruk-Markt, als Erstwerber, Gilgamesch ist wie Bond der Kultivierte, derjenige, der die legendäreMauer um seine Stadt und gegen die Wildnis hat bauen lassen, so wie erseinen Gefährten Enkidu aus einem behaarten Ur-Tarzan, der mit denTieren sprach und mit ihnen dieselbe Tränke teilte, sich in seinenFreund und Waffengenossen anverwandelte und alles Wilde weiterhin im schrecklichenChumbawa, dem Herrn der Wälder, festmachte. Gemeinsam ziehen die beidenlos, um den wilden Chumbawa zu vernichten, warum, weiß so recht niemand. Auf zehn Doppelstunden liegt unberührt der Wald - Wer ist's, derhinab in sein Inneres steige? Chumbawa, das wilde Böse, wird natürlich im sumerischen Eposbesiegt, ersteht aber in allen folgenden Märchen, Mythen, Religionenund Filmen wieder neu. In jedem Gegenspieler Bond's - sicher ist das Ganzenur ein Spiel mit höchstem Einsatz - können wir ihm begegnen,auch wenn er sich inzwischen zu einer Art Cyborg gemausert hat. Aber erist jeweils besessen von blinder Leidenschaft, Haß, Habgier, Irresein,umgeben von den dumm gefräßigen Tieren der Wildnis (am liebstenHaie). Gleich der erste Gegenspieler, Dr. No, gab mit seinen Handprothesendie eindeutige Vorgabe, daß das Böse immer auch das Entstellte,Häßliche ist, mit Makeln behaftet. Es sind die Operierten, diedie subversiven Operationen planen, die Bond zu vereiteln hat, um die Homöostasedes empfindlichen Atomgleichgewichts zu sichern. Es sind die Loser, die Winner sein wollen, der Slave, der vom Master-Daseinträumt, das Lokale, das sich als das Globale aufspielt, das es auszuschaltengilt. Wir sind am Ende beruhigt, daß wie immer das Gute, Schöne,Wahre mal wieder über das Böse gesiegt hat und vergessen leicht,daß das Kriminelle vielleicht nicht nur bei den Bösewichternzu finden ist, sondern bei der kulturellen Konstruktion selbst, die derNatur, dem Wilden von Anfang an den Kampf angesagt hat. Gilgamesch dämmertes vielleicht schon, als er den Tod seines Gefährten Enkidu beklagt: Weinen möge über dich der Wald, die Zypresse und die Zeder! Köln, 1998 |