Hartmut Zänder: »Der Body-tag«, Gedankensplitter zu HTML

   Gegen das babylonische Sprachenwirrwarr hat das Abendlandverschiedene Entwürfe eines kommenden gemeinsamen geistigen Reichesgesetzt; das christlich-jüdische Reich Gottes, die griechische bildungsverliebtePhilosophengemeinde, den technokratischen Imperialismus Rom's, dann erneutdie Versuche der Renaissance, Begriffe wie Aufklärung, Vernunft, Wissenschaftu.a. zum Quotenrenner zu machen. All diese Bemühungen wie zum Beispieldie Postulierung des Endes aller Metaphysik (Heidegger) oder des Anfangseiner Postmoderne (Virilio, Baudrillard, Flusser) oder eines evolutionärenZiels wie das einer Noosphäre (Gabriel Marcel) erscheinen heute wiedie Versuche, eine gemeinsame Sprache, eine vereinheitlichte Konzeptionzu errichten, die normativen Charakter haben kann.
   Nun, das Ziel ist erreicht, auch wenn es leicht andersaussieht als in den frühen Visionen erträumt. Die großeVereinheitlichung heißt Internet oder WEB und sie legt eine Dynamikan den Tag, neben der alle Neuerungen der Renaissance oder des Industriezeitaltersim Schneckentempo entstanden zu sein scheinen. Sie ist tatsächlichglobal und sogar transzendental im kantischen Sinn des Wortes, denn sieist die Bedingung der Möglichkeit, daß alle Menschen mit Rechnernauf diesem Globus untereinander verbunden sind. Für das zuständigeW3-Konsortium ist das »World Wide Web . . . the embodiment of humanknowledge«. Das scheint mir im Anspruch eine ganze Menge zu sein.Ein Haufen vernetzter Rechner soll die Verkörperung des menschlichenWissens sein?
   An einer anderen Stelle spricht das Konsortium von einem»body of software«, was doch einigermaßen verwirrendist, sind abendländische Köpfe doch an die descartsche Unterscheidungeines Körpers im Raum (res extensa) und eines Gedankendings (res cogitans)gewöhnt. Also entweder ist die Verkörperung von Gedankendingeneine logische Unmöglichkeit oder aber die langersehnte Erfüllungund Überwindung einer unerträglichen Kluft des Lebens. Aber vielleichtsind dies bloß literarische, philosophische Fragen, die die augenblicklichenglobalen Probleme gar nicht berühren. Es könnte lohnen, die Dingemit dem anschaulichen Denken anzugehen, zum Beispiel mit der griffigenFormel, die nicht nur für Fußball gilt: Das Runde mußin das Eckige!
   In TV-Sprache hieße das: Wie bekomme ich die großerunde Welt in den Fernsehkasten, in PC-Sprache: Wie kann ich lineare Texteund Programme schreiben und dabei den Anschein eines bunt-bewegten Monitorserwecken? Diese Frage, die aus einem langweiligen Computer auf DOS-Ebeneeine graphische Benutzeroberfläche entstehen ließ, spielt auchauf der Ebene von Netzwerken die entscheidende Rolle. Wie jage ich Bitsaus 0 und 1 so durch die Telefondrähte, daß dabei am andernEnde der Welt ein akzeptables, womöglich interaktives Lay-out herauskommt?
   Die Antwort heißt HTML, wörtlich »Hyper-textmark-up language«. Diese Seitenbeschreibungssprache, entwickelt amGenfer CERN von der Gruppe um Berners-Lee gibt nicht nur die jeweils neuestenStandards vor, nach denen die Browser der Welt laufen sollen, sie hat gleichzeitigdafür gesorgt, daß zusätzlich das Englische so ganz nebenbeiseine Vormachtstellung in Wissenschaft und Technik weiter ausdehnen konnte.Doch nicht die englische Sprache ist hier von Interesse, sondern die neueMetasprache namens HTML. Ähnlich wie zuvor schon das Fernsehen sorgt auchdas Internet mit seiner rasanten Beschleunigung von immer neuen Standards,von Erweiterungen wie Java, XML, Dynamic HTML u.a. dafür, daßkeinem der Verbraucher die nötige Luft bleibt , einmal in Ruhe darübernachzudenken, womit man es hier eigentlich zu tun hat.
   Wer beim Web-Surfen umschaltet auf den Quellcode, wirdbeim ersten Blick auf die Mixtur aus Text, Klammern und Sonderzeichen verwirrtzurückschrecken, dabei ist die grundsätzliche Struktur einfach,nämlich ähnlich gebaut wie ein Männeken, ein Gebilde ausKopf und Körper, englisch head and body. Der <head-tag> beherbergtden Titel der Seite sowie Hintergrundangaben und Schlüsselwörterfür Suchmaschinen, der <body-tag> das, was auf den Bildschirmentatsächlich erscheint. Das Erscheinende ist traditionell Gegenstandder Ästhetik, deshalb sind Fragen nach dem sprachlichen Bedeutungsumfangder betreffenden Begriffe durchaus ästhetische Fragen.
   Das Wort body aus »body-tag« ist auch im nicht-englischenSprachraum bekannt, der »tag« jedoch, der deutsch klingt wieGuten Tag z. B., dürfte kaum vertraut sein, zudem sehr schwer zu übersetzen.Besieht man sich die Sache genauer, sollte deutlich werden, daß essich um ein sehr treffendes und anschauliches Bild für die HTML-Strukturhandelt.
   Das Metallende eines Schnürsenkels ist gleich »tag«,
   ein Etikett auf einem Schulheft ist gleich »tag«,
   der Anhänger an einem Koffer ist gleich »tag«sowie alles, was irgendwo lose herunterbaumelt oder zu Lumpen und Schnipselngerissen ist. Es gibt ein Kinderspiel namens »tig & tag«,bei dem es schlicht darum geht, daß einer dem andern hinterherrennt,ihn fängt, indem er mit der Hand anschlägt. »to tag around«meint im Slang soviel wie »irgendwo herumhängen«.
   Der gemeinsame Nenner dieses vieldeutigen Begriffs liegtnicht einfach auf der Hand, scheint aber auf jeden Fall etwas mit Gestaltund Gestaltresten zu tun zu haben. Ein TAG ist nie die Gestalt selbst,sondern das, was von einer Gestalt übrigbleibt, als loses Ende heraushängt,absteht, dranpappt. EinAnhängsel, mit dem man eine Gestalt auch bezeichnen,markieren kann, wenn man will. Manche Computerprogramme stellen genau dieseFunktion unter diesem Namen zur Verfügung (to tag - to untag).

Anfang und Ende

   Aus dem griechischen Alphabeth stammt das bekannte Schlagwortvon Alpha und Omega, von Anfang und Ende. Nun sind diese beiden nicht bloßeabstrakte Buchstaben oder Zeichen, sondern gehen ähnlich wie ägyptischeHieroglyphen oder chinesische Schriftzeichen ursprünglich auf Bilderzurück, auf einen realen anschaulichen Sachverhalt. Merkwürdigerweisebeziehen sich die Zeichen auf ein Ding, das ähnlich aussieht und funktioniertwie der zuvor erwähnte Schnürsenkel. Dieses Ding ist ein Seilmit zwei Griffen, man braucht es zum Seilchenspringen. Das Seil, die Gestalt,läßt sich in alle möglichen Formen biegen und wird am Anfangund Ende von den Griffen oder TAGS geklammert. Es ist durchaus denkbar,sich die Struktur einer HTML-Seite als eine Aneinanderreihung und Verschachtelungvon Seilchen oder Schnürsenkeln unterschiedlicher Länge vorzustellen.Den längsten Senkel bildet das HTML-Tag selbst, das die Art der Sprachebestimmt und den Text eröffnet und beschließt.
   <html></html>
   Die beiden nächsten großen Senkel bilden, wiegesagt, ein vollständiges Männeken, eingeteilt in head und body-tag.Alle übrigen ordnen sich brav diesen beiden unter, immer schönpaarweise angeordnet.
   Zwei Markierungen und Anhänger sind es, die das krankenhausverwalteteDasein am Anfang und Ende zusammenhalten und klammern: das hellblaue oderrosa Bändel in der Neugeborenenstation, das an der Handwurzel angebrachtist und Namen und technische Daten enthält. Es ist die erste öffentlicheMarkierung des neuen Lebens, die Eröffnung seiner Identität.Das letzte, entgegengesetzte dieser Schildchen findet sich, besonders gernin Krimis, am andern Ende des Lebens und am dicken Zeh, wo es eher wieein Kofferanhänger aussieht und beschließt dort das Dasein inder Pathologie. Zwischen diesen beiden TAGS, zwischen Geburt und Tod, zwischender großen unausweichlichen Klammer des Lebens liegen zahlreicheweitere, die irgendwann beginnen und wieder enden, in der Struktur vonHTML könnten sie heißen:
   <Kindheit></Kindheit>
   <Liebe></Liebe>
   <Beruf></Beruf>
   <Krankheit></Krankheit>und vieles mehr.
   Wie man sieht, sind TAGS in der Regel als <start-tag>und <end-tag> angeordnet, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wobeider <end-tag> immer mit einem Slash, einem Schrägstrich  markiertist. Noch ist HTML recht primitiv, verglichen mit den grossen Kultursprachenund geht vielen auf den SENKEL, aber sie ist global und wächst schnellerals jede Sprache vor ihr und ist somit nicht nur philosophischer Betrachtungwert.

Köln, 1999


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