6. Le tir
( der Schuss )

   Es verging über eine Stunde, in der Luc mit Eike dreiDosenbier trank. Luc's Unruhe war den ganzen Tag über beständigangestiegen und allmählich greifbar geworden.
   »Hast du irgendwie Angst, Luc?«
   »Nein, das ist keine richtige Angst«, stellteer fest, »das ist nicht so diffus, daß man ausweichend sagenmüßte: Ach, es ist nichts. Nein, diese Angst ist anders, kompakter,wie zusammengeknüllt und sie hat eine Richtung. Eindeutig. Ich glaube,ich habe einfach Muffe.«
    »So ein flaues Gefühl in der Magengegend?«
   »Ja, mir fallen die ganze Zeit schon Bilder ausder Kindheit ein, wo Gefahr im Spiel war, Gefahr, Gewalt und Furcht.«
   »Zum Beispiel?«
   »Als kleine Kinder haben wir mit der Angst gespielt.Da gab es eigenartige Gestalten, die wir gefürchtet haben. Den doofenWilli zum Beispiel, ein uraltes Überbleibsel aus der dunklen deutschenZeit. Der lief immer im Unterhemd herum und in schweren hohen Stiefelnund einer Arbeiterhose mit breiten Hosenträgern. Der sei nicht ganzrichtig in seinem Kopf mit dem stacheligen roten Flaum, sagten sie, derspreche ständig mit sich selber und wohne noch mit der eigenen Schwesterzusammen, mit der er doch . . . Dem brauchten wir bloß >Heil Hitler<zurufen von der anderen Straßenseite, dann stand der einen Augenblickstramm im Hitlergruß und glotzte steif in den Himmel, bis ihm aufging,daß da nur kleine Kinder waren, die ihn verarschen wollten. Dannfing der an zu schreien und zu toben und wir rannten, was das Zeug hielt.Ein Riese von Kerl übrigens, sah ein bißchen dem Gert Fröbeähnlich. Oder die alte Hexe aus der Johann-Classenstraße, diein ihrem Erdgeschoßfenster immer einen vollen Eimer Wasser stehenhatte und darauf lauerte, daß wir kamen und im Chor skandierten:diehingerdejadinnestonnunspinxe - datsinndeallerschlimmsteminsche. Dannriß die jedesmal das Fenster auf und das ganze Wasser platschte aufden Bürgersteig. Und die Regel war, daß keiner getroffen werdendurfte und wir alle johlend wegzulaufen hatten. Das war ein Spiel, dasimmer wieder funktionierte. Immer wieder.«
   »Aber das hier ist kein Kinderspiel mehr. Oder willstdu etwa wegrennen?«
   »Im Gegenteil. Ich hab's satt, mich ohrfeigen, beklauenund rumschubsen zu lassen. Ich versteh hier vieles nicht, vor allem dieInternetsachen, aber ich bin auch auf der Welt - und ich werde meinen Platzbehaupten, daß weiß ich.«
   Eike blickte nickend auf den kleinen Monitor.
   »Entschuldigung! Ich dachte gerade, da wärejemand.«
   »Es gab mal einen dicken Asi auf der HöhenbergerKirmes, vor dem sie in Kalk alle Angst hatten. Ich hatte da am Geländerder Raupebahn gelehnt und zugeguckt, wie die kreischenden Mädchen,die innen saßen, immer weiter nach aussen gedrückt wurden durchdie Fliehkraft, direkt hinein in die offenen Arme der kleinen Machos, diesich grinsend einen Kuß ausrechneten, wenn das grüne Verdeckendlich über ihnen zuklappte. Das sah dann wirklich aus wie eine Raupe,die sich ganz schnell rauf und runterschlängelte. Vor diesem Kirmeskraatmit seinen schmierigen Klätschhaaren stand ein blasser Dürrermit fliehendem Kinn, aber bestimmt einen ganzen Kopf größer.Warum es dann so kam, weiß ich nicht mehr, aber plötzlich hatteder Dicke diesen blassblonden Kopf zu sich herunter gezogen und dem seinKnie brutal ins Gesicht gerammt. Ich war damals ungeheuer erschrocken.Ich konnte richtige Todesangst in diesem blutüberströmtem Gesichtlesen und absolut nicht begreifen, wie der dann in den folgenden Monatendem Dicken immer brav hinterher getrottet ist. Wie ein zahmes Hündchenoder ein zu dünner Schatten. So wollte ich nie sein!« Luc standauf.
   »Ich gehe jetzt Theo suchen.«
   »Warte mal!« Eikes Auge hingen wieder am Bildschirm.»Da tut sich was. Komm, spring in die Klamotten!«
   Luc war schon wieder  bereit und stand in vollerMontur in der Raummitte. Diesmal wußte er sofort, daß er denRichtigen vor sich hatte. Der Brustkorb dieses Kerls war mächtig vorgewölbt,ging gerade herunter und verlieh ihm dieses Kastenförmige, das sichim Kopf wiederholte. Der war ganz schön auf der Hut, fand Luc, derstand da mit leicht angewinkelten Armen und schaute sich mißtrauischund vorsichtig um, ganz anders als der Franzose von vorhin.
   Luc ließ ihn noch einen Moment schmoren, löstesich dann aus der Baumgestalt und ging ruhig ein paar Meter auf den anderenzu, so weit, bis er dessen Gesicht genau erkennen konnte. Aber das warkein richtiges Gesicht mehr, das hatte sich verwandelt in das Klischeedes blanken Entsetzens mit weit aufgerissenen Augen und einem offenen schlabbrigenMund. Wie das Kaninchen vor der Schlange, dachte Luc. Wie wenn er einenGeist sieht.
   »Du hast wohl geglaubt, daß du einfach sodavonkommst? Daß du jemanden kaltmachen kannst und keiner kriegtdas mit? Daß das nicht rauskommt. Du hast dich geirrt, Mann. Aberganz gewaltig. Wir kriegen dich beim Wickel, darauf kannst du Gift nehmen.«
   Luc sprach mit fester Stimme und dachte: Der schlottertja. Der Wepp schien nicht in der Lage zu sein, irgendetwas zu erwidernoder sich auch nur eine Handbreit zu bewegen. Er starrte nur entgeistert.
   Und so zuckte er noch nicht einmal zusammen, wie das jederandere getan hätte, als Luc mit einem knappen Schwung ausholte undihm die schwere Kugel gegen den Kopf schoß, der daraufhin wie dasRote eines dünnen Streichholzes wegknickte. Erst als er taumelnd zurückfiel,schien er zu sich zu kommen und wieder zu reagieren. Während er nochfiel, drehte er sich bereits zur Seite, sprang und krabbelte hektisch aufdie Büsche zu, wo er sich einfach in Nichts auflöste. Luc klopftesich zufrieden wie nach getaner Arbeit einen Staub aus den Händen,der nicht wirklich da war.
   Als er den Helm absetzte und den Handschuh auszog, finges schon an, ihn vor lauter Lachen zu schütteln und hielt noch an,als er schon längst drüben bei Eike saß und immer mehrleergequetschte Dosenbiere den kleinen Papierkorb füllten. Er erzähltees wieder und wieder, bis Eike es nicht mehr hören konnte und fragte:
   »Wolltest du nicht Theo suchen?«