5. La mesure
( das Messen )

   Da war ein Schwimmbecken in einem feudalen Anwesen auf demLande, das Herrenhaus hermetisch verschlossen neben weiteren Anbauten.Er überlegte, daß er unbedingt in das Haus müsse, um dieFenster von innen zu öffnen. Er stand dann im ersten Stock, drücktedie Fensterläden gegen die Hauswand, schaute hinunter und sah einengroßen Wal das Schwimmbecken komplett ausfüllen. Wieder am Randdes Beckens stehend war er über die Größe des Wals erstauntund auch über die plötzliche Menge Kinder, die begeistert überden neuen Spielgefährten ins Wasser sprangen und auf ihm herumkrabbelten.Das große Auge des Wals schimmerte in einer fremden alten Weisheitunter Wasser und er bekam trotzdem Angst, daß den Kindern etwas passierenkönnte, nicht weil der Wal ihnen was tun wollte, dafür wirkteer viel zu gütig, aber in dem kleinen Becken konnte er es doch garnichtverhindern, wenn jemand an den Rand gequetscht wurde.
   Die Kinder auf seinem Rücken lachten übermütigund plötzlich tauchte der Wal und zog in einem überschäumendenStrudel alles mit sich herunter. Luc erschrak panisch und dachte: Jetztist es passiert, aber nach einem kurzen Moment, in dem nur ein großerWirbel und über den Rand schwappendes Wasser zu sehen war, kam erwieder hoch, bäumte sich hoch auf und die Kinder rutschten juchzendvon seinem Rücken rüber auf die Platten.
   >Du solltest mehr Zutrauen in dich haben, Junge!<
   Noch ein paarmal versank er ins Traumland, tauchte dazwischenhoch bis knapp unter die Schwelle zur Wachheit und wurde erneut von warmenLichterpunkten hinweggespült, sodaß er sich vibrierend vergaß.Er hätte gut und gerne bis gegen Mittag schlafen können, wachteeinmal mit dem panischen Schrecken auf, etwas Wichtiges zu verpassen undwußte wieder mit Sicherheit, wo er war und stand auf. Zum Glückwar es erst kurz vor zehn. Steif fühlte er sich und so, als habe eram ganzen Körper Muskelkater. Er duschte und frühstücktelange und ausgiebig. Ihm war klar, daß er einiges verdauen und verarbeitenmußte, aber das schien ihm nicht so einfach zu sein. Die ganzen letztenTage waren bereits virtuell gefärbt gewesen und nicht bloß dasCowboy- und Boulespielen bei Eike. Auch die anderen Begegnungen kamen ihmjetzt irreal und absurd vor, wie bloß geträumt, so als wäredas niemals sein Tag gewesen, sondern immer der eines anderen.
   >Eddi’s Tag!<
   Er mußte sie finden, Eddi und vor allem Eike. Erfand aber keinen Pack-an und wanderte in Gedanken zum gestrigen Abend undversuchte, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. Er spürte immerwieder diese grünliche Wut in sich hochsteigen. Sie war ihm was schuldiggeblieben, das stand fest, sonst wäre das Ding vielleicht OK gewesen.
   Was ihn allerdings wirklich ängstigte und verärgerte,war die plötzliche und geballte Erfahrung der Hinfälligkeit,wie ihm nun klar wurde. Die ganzen Tage waren glitschig, schwindelerregend,verwirrend und voller Haltungen und Stellungen gewesen, die ihn keineswegsdem Himmel, sondern der Erde näherbringen wollten und dem Tod.
   >Du mußt wirklich aufpassen, daß du deinenaufrechten Gang nicht verlierst, daß du nicht der Länge nachhinknallst und nie wieder aufstehst<, sagte er sich entschlossen, gingin den Flur und klopfte bei Eike.
   »Komm rein und guck nicht wie ein verstörtesKaninchen, Luc, du wirst noch oft genug große Augen machen!«Eike saß mit Fingern über dem Handy im Bett und wühltein der Pappschachtel.  Er hielt es nur noch kurz ans Ohr und grinste,bevor er auflegte.
   »Das war Alvilic. In einer Stunde soll ich ihm dieSachen bringen. Dann ist mir wohler. Auf jeden Fall will er uns helfen,falls es Ärger gibt.« Er sah neugierig hoch. »Und du - wiewar dein Date?«
   »Gut, aber schwer zu beschreiben.«
   »Hast du etwas Neues erfahren?«
   »Nur ein paar Details. Mich beschäftigt hauptsächlicheine Frage: Eddi Brauser ist Künstler und macht vorwiegend Installationen.Er hat seine Treffen auf Film aufgenommen. Irgendetwas muß der damitvorhaben. Hast du nicht eine Idee?« Eike hörte nicht auf, wieein Honigkuchenpferd zu strahlen. Luc warf ihm ein Handtuch zu, das überdieTischkante hing.
   »Hier, wisch dir das alberne Grinsen aus dem Gesicht.Was soll das?«
   »Ich hatte mir nur auszumalen versucht, mit welcherFrau du dich gestern getroffen hast, der aus der Telefonzelle oder derGondel oder sogar der rothaarigen mit dem Korsett?«
   »Woher weißt du?«
   »Ah, Volltreffer.« Luc fühlte, daßer rot anlief und ihm die Kinnlade runterfiel. Eike quälte sich ausdem Bett. »Komm!« Er startete nebenan den Computer und rafftedie Cybersachen zusammen. Also gut, dachte Luc und ließ sich beimAnlegen von Anzug, Helm und Handschuh helfen.
   »Du mußt mal schauen, ob die Kalibrierungnoch richtig ist, auf jeden Fall ist das noch deine. Hier war kein andererdrin inzwischen. Kann's losgehen?«
   Luc ließ den Helm kurz auf und ab wippen und zupftesich den Anzug zurecht. Das müßte funktionieren. Er hörteleise, wie sich Eike in den Sessel fallen ließ.
   Die Dunkelheit zog Luc herab in eine hohle Stille wieganz tief unter Wasser. Was sich dann formte, bedrängte ihn zuerstin seiner verwirrenden Fülle und nervösen Vielfalt. Er standam Eingang einer riesigen, glasüberdachten Einkaufspassage, wie esdie jetzt in jeder Innenstadt gab. Er hatte schon einige Male solche Orteaufgesucht, dort ein bißchen gezeichnet und war jedes Mal aufs neueerstaunt und verwundert gewesen über dieses komische Zwischenreich,in dem er nie wußte, ob er jetzt eigentlich drinnen oder draussenwar.
   Alles bäumte sich ihm hier aufdringlich plastischentgegen, wie direkt zum Anfassen und flirrte in einer kristallinen Farbigkeit.Er blickte hoch zu einem quergespannten Transparent aus lauter winzigen,knallbunten Glühbirnen und las:
   >Wepp's gallery<
   Das also!
   Er trat ein und schaute sich neugierig bummelnd die Geschäftezu beiden Seiten an. Beim langsamen Gehen sah er erst, wie dreidimensionalalles wirkte. Da wölbte sich ein pompöses Portal mit antikenSäulen aus einer virtuellen Bank, da wartete eine heitere Caféhausbestuhlungauf Gäste hinter viel zu großen Blumenkübeln mit phantastischen,üppigen Gewächsen. Er erkannte ein Shopping-Center, ein Antiquariat,ein Reisebüro und eine Menge Boutiquen voller textiler Nichtse undspitzem Designer-Schnickschnack. Vor einem streng-kühlen Glaspalastblinkte eine Armada goldener Firmenschilder, die fast alle mit dem NamenWepp anfingen. Wepp's Sites, Wepp's Profiles, Wepp's Productmanaging, Wepp'sLeasing, Wepp's Composing und und und. Manches klang geheimnisvoll bisbedrohlich wie >Wepp's Worm-up< oder >Wepp's Hyper-Ink< zum Beispiel.
   >Das gibt es doch garnicht!<
   Das war ja ein riesiges virtuelles Imperium, das der Kerlsich hier aufgebaut hat. Er ging zu einer achteckigen Säule ziemlichgenau in der Mitte der Passage. Sie ragte übermannsgroß, völligkerzengerade und makellos glatt in die Höhe und schimmerte matt wieschwarzer, glänzender Marmor, in den in einem hellen leuchtenden BlauHinweise auf alles, was es hier gab, eingraviert waren. Er ging befremdetum die Säule herum und las die Schilder rauf und runter. Hinter jedemein kleiner blauer Pfeil. So ist das jetzt, dachte Luc, so ist das Internet.Milliarden von kleinen blauen Pfeilen, von Hinweisen und Versprechungenund Links, alles ein einziges zusammenklebendes Spinngewebe, in dem alleden Pfeilen folgen, von einem zum anderen und schnell wieder zurück,jeder zugleich ein bißchen Spinne, ein bißchen Netz, ein bißchenFliege. So ist das jetzt und wird sich nie mehr ändern, bis einerkommt und das alles mit einem entschiedenen und kräftigen Atem wegblasenwird wie die Stengelchen einer Pusteblume.
   Luc reckte die rechte Hand vor und erschauerte leicht,als seine Fingerspitzen tatsächlich die Härte und Glättedes Marmors zu spüren schienen und er fuhr nachzeichnend die Rillender Gravuren entlang, staunend verspielt wie ein kleiner Junge.
   >Hier stimmt doch was nicht!<
   Luc zog die Hand weg wie von einem heißen Ofen.Dieser Stein hier, dieser Monolith ist nichts als pure Illusion, der willdich verarschen, will dir vorgaukeln, daß es in der Mitte dieservirtuellen Welt einen festen, soliden Kern gibt, einen Mittelpunkt, andem du dich immer wieder orientieren und auf den du dich absolut verlassenkannst.
   Ein Fels in der Brandung!
   Pustekuchen!
   Er ging, nun etwas schneller, weiter bis zum Ende derPassage.
   >Wepp's aqualand<
   >Wepp's movies<
   >Wepp's fun-parc<
   >Wepp's sculptures<
   Luc blieb stehen.
   >Wepp's sculptures? Hatte Eddi nicht . . . ?<
   Er öffnete ein hohes, barock geschwungenes Eisentorund folgte einem knirschenden Kiesweg durch einen grünsatten Landschaftsgartenmit vielen freien Flächen. Weiter hinten glitzerte eine symmetrischangelegte Teichanlage vor einem langgestreckten rosa Lustschlößchen.Auf dem Gras um ihn herum standen vereinzelt große, schwere Stein-und Eisenplastiken.
   Ein virtueller Skulpturenpark. Vor dem mittleren Teichbecken,dem Luc näherkam, erstreckte sich ein kleiner Platz, sauber gesäumtvon weißen Sitzbänken und hölzernen Blumenkübeln.Dort mußte er stehenbleiben und auf eine Tafel starren, auf der eineReihe Namen und Titel und Raumnummern vermerkt waren. Offenbar alles Hinweiseauf Künstler und ihre Sachen, die drinnen zu finden waren. Er starrtedie ganze Zeit nur auf einen Namen - die anderen sagten ihm sowieso nichts- und las ihn wieder und wieder:
   >Eddi's V.W.S<
   Er las es richtig auf deutsch und las es falsch auf englisch:
   >You, double you, ass!<
   Darunter stand in kleinerer Schrift:
   Eddi Brauser: Virtual women sculptures, Raum 7.
   Daneben ein goldener Punkt. Jetzt verstand Luc, warumEike so geheimnisvoll getan hatte. Mit Herzklopfen ging er um den Teichherum in den mittleren Eingang, hinein in eine leere Spiegelhalle. Er ließsich von runden Schildern auf Stöcken wie in einem Nobelhotel weiterziehenund fand ohne Schwierigkeiten Raum 7. Neben der Tür erneut Eddi'sAnkündigungen, versehen mit dem Zusatz: >Vorgeschlagen für dendiesjährigen Medienkunstpreis Nordrhein-Westfalen<.
   Er öffnete die doppelflügelige Tür undschreckte zurück wie einer, der einen Fahrstuhl betritt und keineKabine sieht, sondern nur das abgründige Loch voller Drahtseile. Hinterder Tür war nichts als eine tiefe, dunkle Bläue, die sich scheinbarunendlich nach allen Seiten erstreckte. Ihn schwindelte kurz wie bei Blickenaus großer Höhe. Beim zweiten Hingucken jedoch entdeckte erhauchfeine schwebende Gebilde, transparent wie Glas und nur an den Schnittkantenerkennbar, einfach horizontal ins blaue Nichts gestellt wie Trittsteinein einen wilden Garten.
   >Das ist doch alles nicht echt hier!<
   Das war doch nur virtuell, also mußte man auch irgendwieda weiter und durchkommen. Er trat vorsichtig mit der Fußspitze aufdie erste Kachel und prüfte sie. Sie gab nicht nach und er drücktefester und zog schließlich das andere Bein nach. Er konnte tatsächlichdarauf stehen, tastete sich von Kachel zu Kachel und erreichte eine ArtPlattform, ebenfalls aus Glas oder Plexiglas, fest und vielleicht an denSeiten so um die fünf Meter lang. Irritierend war vor allem, daßdie Platten nicht nur durchsichtig, sondern völlig unverbunden waren.Sie hingen einfach von selber in der blauen Leere. Aber erstaunlicherweisekonnte er darauf stehen und schaute sich um. Er sah weitere Kacheln, mancheähnlich der Plattform, auf der er stand, andere zu geraden oder gewendeltenTreppen geschichtet. Sie begannen oberhalb der weißglänzendenSeitenkanten und führten hinauf zu weiteren Ebenen. Er blickte hochund konnte kein Ende finden, Schichten um Schichten transparenter Kacheln,kaum an den weißen Linien und einem matten Schimmer erkennbar.
   Ein kristalliner, kühler Himmel, in dem sich nichtsund niemand zu befinden schien.
   >Aber das kann doch nicht alles sein! Wo sind die Frauen?<
   Die Treppen waren unterschiedlich lang und er wählteeinfach die Nächstgelegene rechts neben ihm, die eindeutig auf eineandere Plattform führte. Wieder tastete er zuerst Stufe für Stufenach oben, vorsichtig wie in einem stockdunklen fremden Haus.
   >Quatsch!<
   Plötzlich erschien ihm dies als zu blöd under zwang sich dazu, so weiterzugehen, als habe er im Leben nie etwas anderesgetan als virtuelle Treppen zu besteigen. Noch immer war er allein, konntesich aber nun etwas mehr Überblick verschaffen und erkennen, daßdie geraden oder nur einmal abgeknickten Treppen alle zu Ebenen führten,von denen weitere Treppen abgingen, am Ende der runden Wendeltreppen aberjeweils Endstation war. Von dort ging es nicht weiter, sie schienen ihmauch etwas abgerundet an den Ecken. Vielleicht stellten die eckigen Plattformensowas wie Etagenflure dar, von denen aus man einzelne Wohnungen erreichenkonnte. Aber es war doch überhaupt nichts zu sehen! Er mußteeine der langgezogenen Wendeltreppen ausprobieren. Er dachte beim Hochgehen,daß ja vielleicht schon etwas zu erkennen wäre, sobald er überden Rand guckte, aber auch auf den letzten Stufen war noch nichts.
   Erst als er mit einem Fuß die Plattform berührte,sah er sie.