3. Le but
( das Ziel, das Schweinchen )

   Er stand in einem dunklen Sumpf oder aber einem Raum, dessenBoden glitzerte wie ein Sumpf. Theo ging gebückt vor ihm, ihn aufgeregtheranwinkend. Er trug wie gewöhnlich den schwarzen Trainingsanzugmit dem blau abgesetzten Schulterdreieck. Sein Gesicht schimmerte gespenstisch,wie von unten beleuchtet. Luc folgte nach und sah, daß knapp unterder Wasseroberfläche blaue Fußtritte angebracht waren, die einensicher führten. Er dachte: >Das ist lustig, wie das quaatscht!<und im gleichen Augenblick war Theo verschwunden. Stattdessen rief Eikeaus großer Ferne: >Hierher!<
   Luc wollte sofort hinterher und hielt Ausschau nach demnächsten Schritt, fand sich aber nur noch von glibberigem Wasser umringt.Grollende Geräusche schwollen heran, wurden zu klappernden, metallischenLoren, die immer lauter um ihn herumrollten. Manche leer, andere mit einerjohlenden Meute besetzt, aus einigen grinsten, kurz aufflackernd, ihm bekannteKöpfe wie in der Geisterbahn: Wepp, die Hand zum Schlag erhoben, dieschwangere Sonja, ein braungebrannter Mann in einem Hawai-Hemd, der nichtAlvilic war und Theo, der traurig nach unten blickte. Ein hölzernesKlopfen passte nicht dazu und ließ Luc aufwachen. Eike hielt dieTür einen Spalt weit auf.
   »Morgen, Mann - aufstehen! Ich muß jetzt los.Willst du mit zum Alvilic nachher?«
   Luc lugte durch verquollene Augen.
   »Das Turnier! Nein, ich kann nicht, ich habe zugesagt,mitzuhelfen. Mist, ich muß ja auch weg.«
   »Na gut - äh, ich habe dir noch zwei Brötchenübriggelassen. Hinten, auf dem Tisch.«
   Luc sprang aus dem Bett, stellte den Kaffee an und duschte.Neben den Brötchen lag die Abendausgabe des Express, die er gleichmitnahm. Er frühstückte und blätterte lustlos hin und her.Auf der dritten Seite stand die Meldung.
   >Also umgebracht haben sie den Bosch! Und so brutal! Deshalbdie komischen Fragen auf der Polizei. Am Dienstag Abend also. Schrecklich,das.< Luc faltete die Zeitung zusammen und schlürfte den letztenRest Kaffee aus. >Komisch, Theo verschwindet und den Bosch finden sie -tot! Hoffentlich heißt das nichts.< Er hatte den Fabian Boschzwar nie gemocht und der gehörte auch nicht wirklich zur KölnerSpielgemeinschaft, aber trotzdem, das wünscht man doch keinem.
   >Aber davon läßt du dir den Tag nicht vermiesen!<
   Das Rad hing hinten immer etwas schwerer runter, wenner es mit den Kugeln in der Packtasche schulterte. Er ließ es draussenleicht aufdotzen. Es war noch früh an Fronleichnam und zum neuntenMal gab es das 6-têtes-Turnier in Köln, Einschreibeschluß10°°. Abgesehen von den wichtigen Meisterschaftsturnieren hattees sich über die Jahre zu einem der größten deutschen Turniereentwickelt, kopiert in Holland und Belgien und inzwischen sogar in dieserForm als eigene Liga vertreten. Mit drei- bis vierhundert Leuten von überallher würden sie heute rechnen können. Es sah aus, als würdees noch wärmer werden.
   Zeitgleich mit ihm war drüben Tina aus dem Haus getreten,ebenfalls ein Rad geschultert, ein Rennrad aus Alu, das federleicht zusein schien. Sie hatte diesmal nicht die grün-weiße Polizeimonturan, mit der sie sonst Streife fuhr, sondern hellbraune Shorts und ein gelbesT-Shirt, setzte sich aber dennoch über die zurückgebundenen Haareeinen windschnittigen Helm auf. Ihre Beine waren braun und kräftig.Sie hatten noch nie miteinander gesprochen, aber Luc mußte grinsen,weil er diese Helme etwas affig fand und grüßte sie einfach.Sie lächelte zurück und schob das Rad in seine Richtung auf dieStraße.
   »Immer auf Sicherheit bedacht, oder?«
   »Alles Gewöhnungssache. Wir sind einfach angehalten,uns auch privat vorbildlich zu verhalten.«
   »Also ich habe mal mitbekommen, daß Sie Tinaheißen. Ich bin Luc Springer.«
   Er reichte ihr die Hand.
   »Ich weiß. Ich hab gestern mit meinem Onkelüber die Geschichte mit ihren Papieren gesprochen. Der ist am Waidmarktbei der Kripo.«
   »Doch nicht etwa der dicke Niedel-Scherer?«fragte Luc erstaunt.
   »Nein, nein, mein Onkel heißt Liesegang wieich.«
   »Zimmer 203, raucht und telefoniert gern.«
   »Exakt.« Sie lachte. »Wo sollÕs dennhingehen bei diesem schönen Wetter, zur Mülheimer Prozession?Das hatte ich mir nämlich auch als letzte Möglichkeit überlegt.«
   »Nein, wir haben ein riesiges Bouleturnier heutein der Südstadt, da muß ich hin, aber wenn Sie nichts Besseresvorhaben, können Sie ja gerne mitkommen.«
   Sie schaute ihm fest in die Augen, während sie scheinbareinen Moment überlegte.
   »Boule? Ich weiß nicht, ich hab das noch niegespielt, nur mal im Urlaub gesehen, in Cadaques. Aber ich wollte mir dassowieso mal näher angucken. Kann man denn da so einfach mit oder istdas eine feine geschlossene Gesellschaft?«
   »Nix fein, ist alles ganz offen bei uns. Wir könnenja zusammen hinfahren. Sie könnten sogar mitspielen, wenn Sie wollen.Ist schöner. Da formieren sich immer noch Mannschaften auf den letztenDrücker und einen Satz Kugeln habe ich auch dabei.«
   Die Straße war frei genug und sie konnten ein Stücknebeneinander herfahren.
   »Ich weiß aber echt noch nicht, ob ich dasjemandem antun kann.«
   »Macht überhaupt nichts, heute geht es nichtso sehr ums Gewinnen. Einfach nur den ganzen Tag mit netten Leuten spielenund ein bißchen Spaß haben.«
   Er hätte sie dann lieber vor sich gehabt und aufihren knackigen Hintern geguckt, aber dies war sein Spiel und sein Weg.Die Polizei hinter sich zu haben, ließ ihn automatisch überlegen,ob mit seinem Rad alles in Ordnung war, Bremsen, Licht, Strahler und so.Er mußte bei sich lachen und fuhr in Richtung Deutzer Brücke.Auf dem Radweg der Rheinuferstraße blickte er zu ihr herüber.
   »Ich hab das mit dem Bosch heute morgen in der Zeitunggelesen. Ist ja eine furchtbare Geschichte. Haben Sie etwas damit zu tun?«Er überlegte, ob sie ihn vielleicht deshalb begleitet.
   »Nein, ich fahre ja nur Streife. Den Fall hat derNiedel-Scherer. Allerdings bin ich im Bilde.«
   Die Wiesen im Römerpark begannen sich in bester Sommerträgheitzu füllen und in der Mitte packten Mitglieder der Eierplätzchenbandschon einige Instrumente aus. Sie fuhren runter zum Fort und schoben sichdurch das schwankende Gedränge der viel zu früh Gekommenen. Lucsah Manni mit anderen die Biertheke aufbauen und gab ihm ein Zeichen. Erging rüber in die Ecke vor dem Bauspielplatz zu der Gruppe um MonsieurRaymond, dem jungen Thomas und Marcel, dem ewigen Charmeur, der mit einemfremden Nordafrikaner sprach. Einer jungen hübschen Frau die erstenKniffe im Boule beizubringen, dazu war der immer gut. Marcel legte auchsofort etwas Glanz nach in seine dicken, schläfrigen Augen, setzteein lausbübisches Lächeln auf, lüftete sein weißesHütchen und besorgte Kugeln für Tina. Luc entschuldigte sichbei ihr und machte sich zu Manni auf.
   Der hatte gerade ein frisches Faß angeschlagen undbemerkte LucÕs merkwürdigen Blick.
   »Was guckst du mich so an? Hab ich grüne Punkteim Gesicht?« Er ließ sich Zeit, etliche Kölschflötenmit erstem Schaum vollzupumpen. »Wen hast du denn da Schönesdabei?«
   »Das ist nur eine Nachbarin, die Ône Radtour macht.Ich hab sie eingeladen, weil sie anscheinend nicht wußte, was siemit so einem schönen Feiertag anfangen soll. Ist übrigens beider Polizei.«
   »Jetzt hat er schon persönlichen Begleitschutz.Alle Achtung, Mann! Oder ist die wegen des Bosch hier?«
   »Du hast also schon davon gehört?«
   Manni guckte jetzt hoch und wirkte ernst und älter.
   »Gestern abend. Die arme Frau. Sie wohnt bei mirgleich um die Ecke. Das ist furchtbar.«
   »Hör mal, ich war doch gestern früh beider Kripo wegen der Papiere und da haben die mich schon nach dem Boschbefragt. Ich mußte denen das mit dem Franzosen sagen. Ich hoffe,du . . . «
   »Ist schon in Ordnung. Ist doch nichts dabei.«Manni trank das Kölsch aus, dessen Schaum sich auf ein halbes Glasreduziert hatte und schmeckte nachdenklich ab. »Es ist schon merkwürdig.Für mich gehört der Bosch in eine Zeit, die ist schon zwölf,fünfzehn Jahre her, als ich noch in Höhenberg unterrichtet habean der Berufsschule. Er war ein Schüler von mir und stell dir vor,der Wepp gestern: das ist zufällig auch ein Kollege von damals. Erhatte Informatik unterrichtet. Wirklich komisch.«
   »Vielleicht kannst du das alles mal dieser Tinaerzählen?«
   »Weiß noch nicht.«
   Die ersten Durstköpfe bauten sich mit ihren Biermärkchenvor der Theke auf. Aus der Menge hinterm Tor bei der Einschreibung winktefragend Albert/Schießer, hob fünf Finger und zeigte dann aufLuc, der lächelnd abwinkte. Er ging nochmal zurück. Marcel hattesich inzwischen spontan einen sechsten Spieler besorgt und Tina einfachmit in die Mannschaft eingebaut.
   »Ich habe sie alle gewarnt.«
   Sie hatte die Arme erhoben und trug offensichtlich keineSchuld. Sie begannen sofort ein Probespiel. Tina stand da mit ihren zweiKugeln in der Hand und wägte sie schätzend ab. Über ihreKugeln zogen sich sehr enge Quadratbänder, tief geriffelt. Die braunenFlecken zeugten davon, daß lange nicht mit ihnen gespielt wurde.Tina ging recht unbefangen mit ihnen um und stellte sich nicht einmal allzudumm an, wie sie fand. Sie war ja sportlich und gerade und überhauptnicht eitel, sodaß es ihr nicht das Geringste ausmachte, sich etwassagen zu lassen und direkt die richtige Technik zu lernen. Sie hatte sehrschnell, von den anderen ermuntert, ihre Lust am Schießen entdeckt,setzte zwar noch viel zu früh auf, schrabbelte aber eine Menge Kugelnweg und konnte sich dann diebisch freuen. Sie hatte ebenso herzhaft gelacht,als Luc, bevor er ging, ihr noch kurz den typischen Rentner vormachte,der zum ersten Mal hier am Bouleplatz steht:
   >Is dat nit dat Spill, dat dä Adenauer fröheremmer en Cadenabbia jespillt hätt? Dat kenn isch. Dat hejss Botschija,nä?<


   »Bin ich denn der einzige Depp in diesem Laden, deram Feiertag arbeitet?«
   Niedel-Scherer ließ den Hörer wütend aufdie Gabel knallen. Er brauchte dringend einen, der französisch sprach,aber alle drei Kollegen, von denen er das mit Sicherheit wußte, warennatürlich nicht da. Er spitzte die Lippen so weit vor, bis sein Zigarillodie Nase berührte. Er las zum dritten Mal die E-Mail, die ihm Müller-Dreireingebracht hatte.
   >Cher collègue,
   pour des renseignements plus detaillées, vueilliezprendre contact à Mme Viola Vachequirit, numéro oo33 496552840,
sincèrement
Serge Broccoli<
   Er hatte gestern abend noch Dupuis von der Sitte in Marseilleanrufen lassen, um zu gucken, ob denen ihr Fall irgendwie bekannt vorkam,aber die hatten ihn an Paris verwiesen, doch da war niemand mehr und siehatten nur ihren Willi dalassen können.
   »Was ist?« Es war wieder Müller-Drei.
   »Hören Sie, Chef. In der Pathologie hab icheinen Praktikanten aufgetan, der französisch kann. Soll ich . . .?«
   »Schicken Sie ihn schon rauf!« Er brauchteunbedingt noch einen Kaffee und ließ seine kurzen Beine zum Automatenflitzen.
   >Der sieht ja selber aus wie eine verdammte Leiche!<dachte er, als er ihn auf dem Gang traf. Kuki Sporn war Anfang Zwanzig,unglaublich bleich mit einem fliehendem Kinn. Niedel-Scherer blähteinstinktiv die Nasenflügel auf. Wenigstens hatte der seine Arbeitskleidungausgezogen.
   Er erklärte ihm drinnen kurz, worum es ging und ließihn dann im Stehen telefonieren, während er sich Blatt und Stift zurechtlegte.
   Die Nummer erwies sich als der Privatanschluß derKommissarin, die sie auch noch geweckt hatten. Sporn übersetzte immereinige Brocken, die Niedel-Scherer sich notierte, gelegentlich nachfragend.Es stellte sich heraus, daß es 1969 einen ähnlichen Fall gab,den ihr Vater damals bearbeitet hatte.
   Niedel-Scherer nickte umso zufriedener, je längerer mitschrieb und fand seine Vermutungen bestätigt. Als sie fertigwaren, stipste er Sporn seinen dicken Zeigefinger in die Brust.
   »Sie haben ein Bier gut bei mir, junger Mann!«
   Wieder allein, baute er sich vor den Fotos von Bosch auf,die an einer Pinnwand steckten.
   >Tja, dich hat wohl das gleiche Schicksal ereilt wie diesen"Parisien" damals. Nur haben sie den am Leben gelassen.<