2. Le rond
( der Kreis )

   Luc saß noch im Morgenmantel beim Kaffee und grübelte,ob er bei der Polizei anrufen sollte, als das Telefon ging und einer vondenen, ein gewisser Müller aus der Abteilung von Kommissar Liesegangsich meldete.
   »Das trifft sich gut. Ich habe gerade an Sie gedacht.Aber schießen Sie erstmal los! Sie haben zuerst angerufen!«
   »So schnell schießen die Preußen nicht.Also ganz kurz nur, Herr Springer, bei uns ist die Hölle los und ichsoll Ihnen nur etwas ausrichten. Routinemäßig werden ja in derHauptpost die unbezahlten Postfächer geleert und in einem davon habeich lauter Briefe mit Ihrem Namen drauf gefunden.«
   »Kann ja jeder draufschreiben. Ich habe im Lebennoch kein Postfach besessen.«
   »Ja ja, das haben wir uns schon fast gedacht. AberHerr Liesegang meinte, daß es ja sein könnte, daß derjenige,der monatelang Ihre Papiere hatte, das Postfach unter Ihrem Namen eingerichtethat. Was meinen Sie dazu?«
   »Allmählich beginne ich zu glauben, daßalles möglich ist. Vielleicht sollte ich . . .«
   »Genau! Kommen Sie doch im Laufe des Tages vorbei,dann gucken wir die Sachen mal durch, ja?« Und weg war er. Luc starrteauf den Hörer, als hätte er eine koreanische Gebrauchsanweisungin der Hand.
   >Na ja, du kannst denen genauso gut nachher von Theo erzählen!<Er ging leise nach hinten und fand Eike schnarchend und unaufweckbar inverdrehten Laken. Luc ließ ihn schlafen, duschte und begann, sichanzuziehen. Das T-Shirt war eingelaufen. Er quälte es sich eben überdie nassen Haare, als es an der Haustüre schellte.
   Vor der Tür stand eine junge Frau Anfang Zwanzig,braune Haare, frisch auf Kinnlänge gestutzt, über einem weichen,amerikanischen Gesicht mit leichter Stupsnase. Sie streckte ihm in einemgestärkten, hellblauen Sommerkleidchen ihren sichtlich schwangerenBauch entgegen.
   »Ich will zu Luc. Ist er da?« Der beäugtesie zunächst mißtrauisch, dann leicht belustigt, nickte undtrat zurück, um sie vorbeizulassen. Ihre bravbraunen Augen spähtenentschlossen in jede Ecke. Die Küche war der erste Raum, in den siestürmte.
   »Wo ist er?« Im Wohnzimmer drehte sie eineschnelle Runde um das Zeichenbrett. Luc half ihr, schaute unter dem Bettnach und stellte sich auf die Zehenspitzen, um im obersten Regal hinterden Büchern nachzusehen. Sie streifte mit einem Luftzug in seinemRücken vorbei und er glaubte, sie würde auf der Stelle beleidigtdie Wohnung verlassen. Er merkte einen Tick zu spät, daß siebereits durch Theo's Tür war.
   »Pst, leise. Da schlafen Leute!« Er lief ihrhinterher, erwischte sie aber erst, als sie bereits aus dem hinteren Zimmertrat und enttäuscht und verächtlich auf den schnarchenden Eikeherunterblickte. Er schob sie mit sanftem Druck zurück und schloßdie Tür.
   »Setz dich doch erst einmal«, sagte er undzeigte auf einen der drei Stühle am Tisch. Sie folgte gehorsam, blicktedirekt auf das leere Reißbrett und die weiße Wand dahinter,vollbespickt mit kleinen Bleistiftzeichnungen, Luc's sogenannten Gedichten,Splittern aus kleinen Notizen und auf das noch ungemachte Krankenhausbettmit dem weißen, blätternden Rahmen aus Metall. Er holte nocheine Tasse Kaffee und setzte sich ihr mit seinem Rest gegenüber. Sieschwiegen und tranken.
   »Du bist Sonja, stimmt's? Ich denke, daß wirmiteinander vielleicht mal reden sollten. Also erst einmal: Ich bin derLukas Springer und wohl auch der Einzige weit und breit.«
   Er ließ seine Augen nicht von ihr, so, als fürchteteer, daß sie jeden Augenblick vom Stuhl rutschen könnte. IhrMund kräuselte sich trotzig, sie konnte ihn hören, schien abernicht bereit, den Inhalt seiner Worte in sich hineinzulassen. Das war wohlein Bissen, den sie so leicht weder kauen noch verdauen wollte. Erst alssie zu einem Protest ansetzend zurückblickte, sprach er weiter.
   »Es sieht so aus, ich weiß das aber noch nichtgenau, als wäre jemand, den du als Luc kennst, fast ein Jahr langunter meinem Namen durch die Gegend gelaufen. Wohl auch mit meinen Papieren,die ich nämlich gestern erst wiederbekommen habe. Ist das von ihm?«
   Er deutete mit einer schnellen, scheuen Handbewegung aufihren Bauch. Sie schien im sechsten oder siebten Monat zu sein. Daraufangesprochen, schien ihr Bauch sich in etwas Fremdes, Falsches zu wandelnwie die Beute einer frisch ertappten Kaufhausdiebin. Auch ihre Augenpartiehatte sich inzwischen ungläubig zu kräuseln begonnen und sielegte ihren Kopf schräg.
   »Was redest du da? Das ist doch alles nicht wahr,oder? Der soll mir die ganze Zeit über was vorgemacht haben?«
   Er blickte sie nur ernst nickend an. Sie schüttelteden Kopf, die Augen in verständnisloser Leere. Die Anstrengung, dieNeuigkeit fassen zu wollen, war beinahe körperlich spürbar. Etwaswälzte sich in ihr und sie setzte mehrfach zum Sprechen an, doch stattdessenbrach sie plötzlich schluchzend in Tränen aus. Er wartete ab,bis sie sich wieder ein bißchen gefangen hatte und in ihrer Taschenach einem Taschentuch kramte.
   »Erzählst du mir von ihm?«
   Er musterte sie aufmerksam und wußte, er brauchtesehr, sehr viel Geduld. Er glaubte fast schon, ihren Jungmädchentraumeiner glücklichen Familie wie ein Rauchwölkchen in der Luft platzensehen zu können, wenn sie sich wie ein Schneckenfühler zusammenzog.Nach einer Weile blickte sie nassäugig zurück.
   »Kann ich mal bitte deinen Ausweis sehen?«
   Er mußte lachen und griff an seine Gesäßtasche.
   »Ich verstehe es nicht. Kann er mich, kann ich michselbst denn so getäuscht haben? Das gibt es doch nicht. Zeig mal her!«
   Sie drehte nachdenklich seinen Paß in ihren Händen.Dann begann sie doch zu erzählen.
   Sie habe von zu Hause weggewollt, aus dem tiefsten Sauerlandsei sie nach Köln gekommen und habe sich durch die Vermittlung einerFreundin, die hier studiert, zuerst eine kleine Wohnung und einen Job besorgt.Sie habe aber niemanden gekannt, gehe nicht in Kneipen oder Diskos, habesich ziemlich einsam gefühlt und irgendwann eine Kontaktanzeige indie Zeitung setzen lassen. Unter einigen anderen habe ER sich gemeldet,sie hätten sich erst mal nur Briefe geschrieben, dann getroffen undsie habe sich augenblicklich in ihn verliebt. Etwa drei Monate lang hättensie sich ab und zu gesehen, seien ausgegangen und einige Male habe er beiihr übernachtet, zwei- oder dreimal auch bei ihm. Er habe in einerVideothek am Ring gearbeitet, daß wüßte sie genau, dennsie hätte ihn da mal abgeholt. Er hätte aber auch noch einenJob bei einer Autovermietung gehabt und öfters mal Wagen irgendwohinbringen müssen. Sie habe ihm eigentlich gleich davon erzählenwollen, als sie sich sicher war, schwanger zu sein, aber da sei immer etwaszwischen gekommen. Außerdem hatte sie die Befürchtung, daßes dann gleich aus sei.
   »Und plötzlich war er weg. Einfach nicht mehrda. Ich hatte extra noch einen Lammbraten gemacht an dem Freitag und warfest entschlossen gewesen, ihm endlich alles . . . wie wenn er es gerochenhätte.« Sie blickte Luc wieder flehentlich an, als ob er ihnihr herbeizaubern könnte.
   »Hast du denn keine Vermißtenmeldung gemacht?«
   Sie schüttelte den Kopf.
   »Wozu? Ich dachte ja, er sei halt abgehauen. Ichbin dann zu seinem Vermieter, der unten im Haus wohnt, aber der kannteihn nur vom Sehen her und hatte gemeint, das sei nur ein Freund von diesemMusiker, der eigentlich die Wohnung gemietet hat. Mit dem habe ich dannauch gesprochen, aber erst ein paar Wochen später, weil der dauerndunterwegs war. Der kannte ihn überhaupt nicht, hatte ihn noch niezu Gesicht bekommen, hatte seine Wohnung einer Mitwohnzentrale zur Verfügunggestellt wegen einer längeren Tournee und diese Agentur hat Luc dannweitervermittelt. In der Videothek war ich dann auch. Da war er auch vonheut auf morgen nicht mehr aufgetaucht. Ich hab dann einfach nur geglaubt,daß er mich eben verlassen hat, daß er einfach weg ist irgendwohinin eine andere Stadt zu einer anderen Frau.«
   Sie saß vornübergebeugt und schaute zwischenihre Füße.
   »Und wie bist du jetzt auf mich gekommen?«
   Zum ersten Mal lächelte sie ein wenig.
   »Warum lachst du?«
   »Weil ich die ganze Zeit über nie auf den simplenGedanken gekommen bin, einfach mal im Telefonbuch nachzusehen. Dann wäreich vermutlich gleich auf dich gestoßen. Aber ich hatte ja seineNummer und wußte ja auch, wo er gewohnt hat. Also, wozu noch nachgucken?Nein, das war wirklich zu blöd. Ich war neulich bei einer Freundinund wir sprachen mal wieder über alles und dann hatte die Ina plötzlichdie Idee, mal im Internet nachzugucken. Die hat auf ihrer Homepage einTelefonbuch für ganz Deutschland. Und da haben wir dann dich hierin Köln gefunden. Ich hab ja immer geglaubt, der Luc sei eben ganzwoanders. Plötzlich war da wieder ein kleiner Hoffnungsschimmer, ichdachte, wenn der erstmal den Bauch sieht, dann . . .tja, war wohl nichts.Wie heißt es? Dumm gelaufen!«
   »Entschuldige mal bitte, aber hast du vielleichtein Foto von ihm? Ich würde doch zu gerne mal wissen, wie der aussieht.«
   »Ja, geben wollte er mir zwar keins, aber wir warenmal auf einer Fête, wo einer fotographiert hatte. Da habe ich dannviel später einen Abzug gekriegt.«
   Sie zog aus ihrer kleinen Schultertasche ein abgegriffenesBild und hielt es ihm hin. Luc sah mit gemischten Gefühlen auf diesenanderen, der anscheinend mit seinen Papieren und unter seinem Namen eineWeile rumgelaufen und Wer-weiß-nicht-was-alles angestellt hatte.Er schien etwas jünger als er zu sein, hatte aber die gleiche schmaleGesichtsform wie er, nur glänzend glatte Haare, die ihm auf die Schulternfielen sowie eine randlos runde Brille. Er trug auf dem Foto ein kleinkariertes,aber viel zu großes Jackett. Der Gesichtsausdruck war ernst, aberirgendwie verhalten und nichtssagend. Luc war vom ersten Hinschauen etwasenttäuscht, er hatte sich den irgendwie anders vorgestellt, markanter,eindeutiger, nicht so formlos wischiwaschi. Merkwürdig, er hatte sichden anderen automatisch ähnlich gemacht und angenommen, der habe aucheine hohe, kräftige Stirn wie er und widerspenstige Naturlocken, vorspringendeWangenknochen und scharfe Linien um einen vollen Mund, die sich zu Grübchenzusammenbogen, wenn man lächelt. Einzig die Augen überzeugtenihn. Sie standen groß und dunkel in dem bleichen Gesicht und eineIris war nicht zu erkennen. Dann sah er dessen kräftigen Hals undauch, daß die Kinnpartie recht energisch vorstand. Der andere könnteschon willensstark sein, neugierig und entschieden. Einer, aus dem mannicht gleich schlau wird, einer, der sich bedeckt hält.
   Eike erschien mit vier leeren Bierflaschen zwischen denFingern. Aus verquollenen Augen stierte er auf Sonja's Bauch.
   »Au, ich hatte ja keine Ahnung!«
   »Die hast du auch jetzt nicht. Hast du heute Nachtwenigstens etwas herausgefunden?« Eike winkte ab.
   »Gleich. Ich brauche erst einen Kübel Kaffee.«
   Luc wandte sich erneut Sonja zu.
   »Du bist nicht die einzige, die jemanden sucht.Da hinten wohnt eigentlich Theo, ein Freund von uns. Den vermissen wirseit zwei Tagen. Aber du wirst jetzt andere Sorgen haben!« Er gabihr das Foto zurück, da sie ihm schon ungeduldig ihre Hand hinstreckte.Das letzte Kleinod. Sie stand auf und wollte gehen.
   »Läßt du mir noch deine Adresse hier, fallsich mal was höre? Am liebsten hätte ich auch eine Kopie von demBild. Ich schicke dir das Original gleich wieder zurück.«
   Sie nickte und gab ihm ein Kärtchen dazu. Ihre Schulternhingen beim Rausgehen auffällig tief. Luc umarmte sie an der Türkurz und aufmunternd und schaute ihr nach, bis sie auf dem Flur seinenAugen entschwand. Eike kam ihm entgegen, hinter ihm das erste Gurgeln derKaffeemeschine.
   »Ich hau mich noch ein Minütchen hin, ich habeheute Nacht bis halb Fünf durchgemacht.« Er brauchte jetzt keineFrage oder Antwort.