Hartmut Zänder
»Tampopo und das Rezept der Lebensbewältigung.«

Leicht gekürzte Version eines Vortrags, gehalten auf der Sektionstagung der DGKT, Köln 1994


"Tampopo."
1996, 112 x 200 cm, Acryl auf Leinwand

   Für meine Zeichnungen habe ich folgendes Rezept: ichschaue mir im Fernsehen vieles an, nehme einiges mit dem Videorecorderauf, entweder ganze Filme oder aber Splittersammlungen von zufälligGezapptem. Mit einem DIN-A4 Zeichenblock und sorgfältig gespitztenBleistiften setze ich mich vor meinen Monitor, die Fernbedienung griffbereit.Ich lasse den Recorder laufen, zielbewußt auf der Suche nach etwasschon Vorgefaßtem oder planlos neugierig nach einem fesselnden Motiv,das mehrdeutig genug ist, um in verschiedene Richtungen ausgelegt zu werden.Ich zeichne drei kleine Monitorrähmchen, die sich überlappendürfen und das nach einem eigenen Rezept in der Art von >Dies-ist-das-Haus-von-Nikolaus<.Von links oben gerade herunter, in einem kurzen Ausholbogen rechts herüber,dann leicht geschwungen wieder herauf, um in einem kräftigen Dachbogenwieder hinter der ersten Ecke anzuhalten oder die Linie ausklingen zu lassen.Das Ganze dreimal, immer gleich und doch jedesmal anders.  Fürjede Zeichnung halte ich das Video an und muß mich sputen, um vordem automatischen Weiterlauf fertig zu werden. Ich arbeite immer etwasauf Vorrat. Das Aufnehmen dauert einige Tage, das Zeichnen ein paar Wochenund das Kolorieren oft Monate. Dazwischen liegen noch das Umkopieren aufweißen Karton, wodurch eine zeitgemäße Schnittstelle entsteht,die die beiden Arbeitsgänge ZEICHNEN  und MALEN-MIT-PINSEL klarvoneinander trennt und zugleich auseinanderhält.
  Ich benutze fertige Flüssigacrylfarben, die für Spritzpistolenhergestellt sind. Zusätzlich sammle ich kleine Honig- und Marmeladengläser,in denen ich weitere Farbschattierungen mische und verschließe. DieRezepturen, die ich benötige, sind lange nicht mehr so aufwendig wiefrüher und dem durchschnittlichen Verhalten vor Fernsehern und Monitorendurchaus angemessen. Fernsehen begünstigt eine bestimmte Form derBequemlichkeit, die darauf aus ist, alle Handhabungen und Bedienungen soeinfach wie möglich zu halten. Das Leben außerhalb der Arbeit,das einmal Dienst an den Bildern eines fernen Gottes war, hat sich heutein die Fernbedienung von göttlichen Bildern verwandelt.
   Mit RECEPTUM EST quittierte der Apotheker des ausgehendenMittelalters die ärztlichen Anweisungen zur Herstellung einer Arznei.Das Rezept, in der Kochkunst als Inbegriff einer Anleitung zur Behandlungvon verschiedenen Materialien etabliert,erfuhr bis heute eine immense Funktionserweiterung.Mit dem Verblassen ethischer Sollenssätze nimmt die Zahl von Bedienungsanleitungenständig zu in der Form von WENN-DANN-Sätzen, die nach wie vorim Funktionsspielraum von Rezepten liegen. Die meisten alltäglichenGespräche dienen dem Austausch von Rezepten aller Art. Sie beziehensich nicht nur auf Fragen der Ernährung und Gesundheit, sondern regelnauch den Hausbau, Haushalt, die Gartenpflege und die Tierhaltung, industrielleProzesse sowie den Umgang der Leute untereinander.
   Rezepte regeln die Behandlung von etwas.
   Wie behandle ich Fleisch, Kartoffeln und Gemüse,wie den Garten, den Ehepartner, das Kind, das Auto, den Fernseher, Computer,mich selbst? Die Zahl der Rezepte, die zur Bewältigung des modernenLebens nötig sind, explodiert heute mit der Zunahme von neuen Dingen.Da hat einer grade den Umgang mit Schallplatten gelernt, hat in den 50erneine Gerätetruhe mit eingebauter Hausbar gekauft, in den 60ern zurMusik eines tragbaren Plattenspielers getanzt, schon ist die kompletteProduktfamilie ausgestorben. Kaum hat sich einer an das richtige Ankurbelneines Autos gewöhnt, sieht er seinen Nachbarn mit einem mobilen Autotelefonin einem Ei aus dem Windkanal.
   Dies alles verunsichert und deshalb gibt es immer mehrSachbücher (Rezeptsammlungen), Experten im Fernsehen (Rezepterklärerund -verbreiter, gerne im weißen Kittel), Talkshows zum geselligenAustausch von Rezepten zur Bewältigung von Kinderkriminalität,Verkehrsstauen, Spiel- oder Magersüchten (Rezeptediskussionen).
   Rezepte stehen nie für sich allein, sondern sindeingebunden in eine sie tragende, vorantreibende und umfassende Konzeption.Obwohl zentraler Begriff in der Kunst dieses Jahrhunderts, sind diese Gesamtverfassungenaus Grundeinstellungen, Stilen, Gestaltentscheidungen, im Allgemeinen besserbekannt als ITALIENISCHE KÜCHE, SPANISCHE MYSTIK, EXPRESSIONISMUS,HIPPIE-KULTUR, HIGHTECH. Alle Moden, Ismen, Bewußtseine lassen sichin ihrer formalen Funktionsbreite als KONZEPTIONEN lesen und in den einzelnenRezepten , Techniken wiederfinden. Denn erst eine vielfältige Gestaltenfülleaus verwandten Rezepten zeigt eine Konzeption als zusammenhänden Formengenerator.
   Deshalb: Wer sich eine Reihe von Rezepten, die zu einerGruppe, einer Familie,, einem Einzeln, einem Werk gehören, aufmerksambesieht, müßte auf die sie treibenden und darin spielenden Entscheidungen,Strategien, Pläne und Sinnversprechen stoßen.
   In diesem Sinn ist Kunst auf weite Strecken hin verstehbarund nicht bloße Projektionsfläche für beliebige Interpretationsgelüste.Natürlich gibt es nicht ein einzelnes, richtiges Verständnis,das sich einstellt, wenn einer glaubt, die verborgene Message begriffenzu haben. Verstehen entwickelt sich im Hin- und Herschwingen zwischen genauemHingucken auf Einzelnes und der sich immer neu zurechtrückenden Annahmeüber den Einfluß einer Gesamtkonzeption (Anmutung und Vermutung).Den vorliegenden künstlerischen Gestaltungsstrategien müssendie eigenen Verständnisstrategien angepasst werden und wo dies nichtgelingt, neue Rezepte zum Verständnis gefunden, entwickelt und erprobtwerden. Dies schafft Kompetenzerweiterung und ist deshalb für alleneugierigen Kunstliebhaber, Sammler, Kritiker und letzlich für denKünstler selbst beglückend.
   Für den Bereich der Kunsttherapie heißt diesin Analogie folgendes: Bilder lassen sich nicht wie Texte lesen, z.B. Texteder Bibel, die ein Geheimnis bergen, das der erfahrene Exeget, und nurer, erkennen und auslegen kann. Nach wie vor arbeiten viele Therapeutennach diesem Verfahren, wobei das religiöse Mysterium durch die inSymbolen verschlüsselte Botschaft des Unbewußten ersetzt ist.Mit wissenschaftlich anmutenden Formalanalysen (z.B. die Quadrantentheorieder Susan Bach oder die Lüschersche oder anthroposophische Farbtheorie)werden immer voneinander abschreibend die ewig gleichen unbegründetenVermutungen über die Dynamik des Seelischen festgeschrieben. Wer nurein wenig Umgang mit künstlerischen Konzeptionen hat, weiß,daß mit jeder originalen Werksentwicklung eine neue Konzeption zumVorschein kommt und damit eine neue Grammatik, neue Spielregeln, eine neueOptik. Diesen Gestaltbildungen muß in einem wohl nie ganz endendenProzeß mit der Bildung von neuen Verständnisstrategien und -rezeptengeantwortet werden. Auch für den, der im therapeutischen Bereich mitbildnerischen Medien arbeiten will, bedeutet dies, daß er in jedemBild, in jeder Serie die ganz individuelle Arbeit an einer neuen Konzeptionrespektiert, die sich in der stetigen Umwandlung von bildnerischen Problemstellungenzu artikulieren versucht.
   . . .
   . . .
   Den Begriff BEDEUTUNG als Funktion und nicht längerals SYMBOL zu fassen scheint auf den ersten Blick eine Verkürzungund Verarmung darzustellen, doch wer einmal durch eine aufmerksame, differenzierteund funtionale Beschreibung von bildnerischen Formproblemen auf die komplexeGestaltfülle einer individuellen Konzeption gestoßen ist, wirddies wohl eher als Bereicherung erleben. Man kann sagen, es gibt Rezepte,um Bilder herzustellen (Gestaltungsstratien), und Rezepte, um mit Bildernumzugehen (Verständnisstrategien).
   Das Wie der Gestaltung bestimmt das Wie des Verstehens.
   Das heißt zuallererst: nachvollziehen, wie etwaszustandegekommen ist und für sich selbst zusammenhängt. Das Selektiveder Wahrnehmung sorgt dafür, daß Wahrgenommenes durch eigeneThemen, blinde Flecken und Verständnisstrategien mehrfach umgebrochenwird. Das heißt aber noch lange nicht, daß deshalb alle Wahrnehmungbeliebig würde im Stile der Geschmacksurteile, die vergebens auf Kunstzielen. Ohne die Gewißheit einer begegnenden Wirklichkeit bliebejeder Annäherungsversuch an eine gemeinsame Kommunikation schalerSolipsismus.
   Mit dem Motivkreis KOCHREZEPTE versuche ich diese Fragenin Seminaren erfahrbar zu machen. Mit der Aufforderung »Wie siehtdas aus, wenn Du etwas für dich selber kochst?« und »Wiesieht das aus, wenn Du etwas für andere herrichtest?« kommenbildnerische Prozesse in Gang, die sehr akkurat die Funktionsweise vonBehandlungsstrategien ins Werk setzen.
   Auf dem Hintergrund realer Kochrezepte läßtsich zeigen, welcher Aufwand getrieben wird, um sich selbst und andereszu behandeln. Geht es dabei um Entspannung, um Regression, um ein kleinesFest mit Kerzenschein? Wird der Tisch gedeckt oder Dosenfutter vor demFernseher verschlungen? Soll es eine süße Pampe sein wie inKindertagen oder etwas deftig Gewürztes, muß es frisch sein,als Auflauf zusammenbacken oder säuberlich getrennt und überschaubar?Wird das Kochen-für-sich als lästiges Übel empfunden oderlustvoll zelebriert?
   Die Gestaltungsprobleme, die sich an dem Motivkreis KOCHEN-ESSENentzünden (besorgen, zubereiten, schmücken, einverleiben, verdauenund ausscheiden) lassen in Analogie konzeptionelle Probleme der Selbstbehandlungsichtbar werden. Diese zeigen sich für andere als Selbstbewußtsein,Selbstvertrauen, Selbstgewißheit oder in demonstrativen Variationenwie Selbstherrlichkeit oder Selbstlosigkeit.
   Wo die Konzeptionen der Selbstbehandlung nicht funktionsfähigsind, kommt es zu Störungen, Eßstörungen z.B. Die Fällesind sattsam bekannt, wo Magersüchtige Bibliotheken voll Kochbücherhorten und tausende Rezepte ausprobieren, allerdings nur für andereund nicht für sich.
   Die herkömmliche Medizin, Biologie und Ernährungswissenschaftbeschreiben alles, was Kochen, Essen und Verdauen zu tun hat, als chemischenFunktionszusammenhang, als Metabolismus einzelner Teilchen wie Vitamine,Kohlehydrate, Eiweiße, Mineralstoffe u.v.m. Auf dieser Hardware-Ebenelassen sich zwar Fragen des Energiehaushalts und Nährwerts verrechnen,da kann am Verdauungsapparat operiert und ausgewechselt werden, nur müssenalle psychologischen Versuche einer Hilfe zur Selbstbehandlung traditionellwie gierige Hunde draußen bleiben. Gerade dies aber könnte zueiner Domäne der Kunsttherapie werden. Die konzeptionelle Erfahrungder Kunst mit den Möglichkeiten, Strategien von Gestaltung und Verständnistransparent und somit veränderbar zu machen, zielt doch genau aufKompetenzerweiterung im Spielraum von Selbstbehandlung, auf größeresSelbstvertrauen, auf die persönliche Kraft, das Leben zu bewältigen.Der aktive, extern fokussierende Umgang mit kreativen Medien kann helfen,eigene existentielle Fragen immer wieder neu zu formulieren und umzugestalten,ohne daß dabei vorschnelle Ausdeutungen nötig wären.
   In diesem Zusammenhang zeige ich gern den EpisodenfilmTAMPOPO von Yuzo Itami aus dem Jahr 1986. Es geht dabei um die Geschichteeiner jungen Witwe mit kleinem Jungen in Tokio, die mehr schlecht als rechteine kleine Garküche betreibt und sich einem reichen Bewerber widersetzenmuß, der sie entmutigen und in die traditionelle Frauenrolle zurückdrängenwill. Auf der Suche nach dem richtigen, endgültigen Rezept einer Nudelsuppe(im traditinellen Japan wohl eher Männersache) zieht sie nach undnach immer mehr Helfer in ihren Bann, um nach Abschluß ihrer eigenwilligenLehrzeit das Leben selbständig zu meistern. Da ist der Fernfahrerim Stil des »lonesome rider«, der anscheinend ZEN und die Kunstder Nudelsuppe beherrscht und die Witwe mit strenger Disziplin in Gangund mit Trainingsstrategien zum Durchhalten bringt sowie sein diskutierfreudigerund modekundiger Beifahrer. Da ist der Pennerkönig, der überein dunkles Reich von asozialen Spitzengourmets herrscht, da ist der alteIndustrielle, der beinahe an seiner eigenen Gier erstickt und aus Dankbarkeitseinen mit allen Wassern gewaschenen Leibkoch zur Verfügung stellt.
   Sie muß ihre Fitness, ihre Aufmerksamkeit und Konzentrationschulen und verbessern, muß das gleiche Rezept immer wieder neu bearbeitenund umstellen und den Impuls kontrollieren, alles hinzuschmeißen.Sie lernt, bei ihren männlichen Kollegen zu spionieren, deren Tricksund Feinheiten herauszubekommen, indem sie in Mülltonnen wühlt,durch Ritzen spinkst und durch geschicktes Aushorchen anderen Köchenihre Geheimnisse abluchst. Das alles ist äußerst mühsamund ein gutes Stück ARbeit, doch am Ende wird sie durch die Anerkennungihrer Helfershelfer und der sich anschließenden Kundschaft belohnt.Man könnte auch sagen: eine gelungene Therapie, ein Lehrstückin Fragen der Selbst- und Fremdbehandlung.
   Angereichert ist der Film durch etliche Episoden, dieeine Fülle unterschiedlicher Rezepte ausbreiten. Wie darf sich einkleiner Angestellter bei einem wichtigen Geschäftsessen verhalten,darf er zeigen, daß er als einziger die fremde, französischeSpeisekarte lesen kann? Wie schlürft man mit dem geringsten Geräuschaufkommenitalienische Pasta, wie betrügt man Leute, fängt man Diebe, prüftman Früchte, hält man eine sterbende Hausfrau durch Kochzwangam Leben?
   Eingerahmt ist das Ganze durch die theatralischen, anden Zuschauer gerichteten Einblendungen eines erotomanen Dandys und seinerGespielin, dem alltägliche Rezepte nicht genügen, der ständigneue Ausschweifungen erfinden und durchspielen muß, bis er schließlichim Stile eines amerikanischen Melodramahelden sein Leben effektvoll beschließt.
   Dies alles ist schön und wie im richtigen Film!

   Köln, 12.1993


+ + + essays: general info + die Bilder zu Tampopo + domain: public homepage + e-mail + + +