Hartmut Zänder
»Die Kunst der Einverleibung«

Als Künstler kümmere ich mich seit zwei Jahren intensiv um dieFernsehkost. Ich trinke diesen Bilderfluß und schlinge auch dieharten Brocken herunter. Ich möchte aber gerne wissen, was ichmir tagtäglich einverleibe. Deshalb schneide ich vieles aufVideo mit, halte es an, fasse es in Bleistiftzeichnungen undfüge es in kleinen Dreiersequenzen koloriert zusammen. Was daso zusammenkommt, ist wie eine Sammlung von Fragmenten aus einemgigantischen, dynamischen Bildwörterbuch ( ich nenne dieseArbeit deshalb ORBIS TV PICTUS ).Ich möchte die Logik des Fernsehens nachvollziehen können,seine Regeln verstehen, seine offenen und versteckten Hinweiseaufgreifen, wie dies denn alles aufzufassen ist.Auffassung ist das deutsche Wort für "Konzeption", demSchlüsselbegriff der modernen Kunst seit Cesanne. Ich denke, vonBeginn an haben Künstler vor allem "Auffassungen" hergestellt,wie Wirkliches zu sehen und zu verstehen ist und haben mit denentsprechenden Leibern, Formulierungen - seien dies Bilder,Objekte, Installationen oder Performances - ihren ZeitgenossenGelegenheit gegeben, die Biegsamkeit und Veränderbarkeit dereigenen Auffassung zu überprüfen oder diese ganz zu erneuern.


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Die Regeln der
Einverleibung 1


Das Nahrhafteste, was die Kunst zu bieten hatte, waren schonimmer neue Verständnisfassungen. Die Meisterschaft in einerKunst hieß nie nur Beherrschung der nötigen Technik, sondernvor allem Entwicklung von Gestaltungsmöglichkeiten undSehstrategien. Diese Tatsache scheint mir der wichtigste Grundfür eine Verbindung von Kunst und Therapie zu sein. Nicht, alsob Künstler von Haus aus gute Therapeuten seien, das verlangtund erwartet niemand.


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Die Regeln der
Einverleibung 2


Die Kunst ist der geeignete Ort, an dem Menschen über Jahre ihrFormrepertoire aus Gestaltungs- und Veränderungsstrategienerweitern können, wo sie gezwungen sind, neue anschaulicheZusammenhänge mit immer neuen Einstellungen, Haltungen,Strategien anzugehen, um Ordnungen, Muster, Regeln oder einProblem zu erkennen. Künstler üben sich darin, anschaulicheProbleme zu finden und sie haben in der Regel Lust, dieseentweder zu lösen oder wenigstens als ein Problem zuformulieren. Ein anschauliches Problem - sei es flächiger,plastischer oder dynamischer Natur - nenne ich "Thema" undunterscheide es so von bloßen "Motiven", die nur Beweger undAuslöser sind, an denen sich Themen überhaupt erst festmachenund entfalten können. Wer im anschaulichen Denken ungeübtist,wird zumeist mit einem Symbolkatalog, dem seelischen Gesetzbuch,in dem alle möglichen Motive samt Deutungen aufgelistet sind,ein "Thema" bestimmen wollen, wie dies viele Psychotherapeutennoch immer tun. Natürlich spielt in der Kunst und im Seelischendie Auswahl der Motive eine gewisse Rolle, aber ihre jeweiligeBedeutung erhalten sie erst durch die Funktion im konkretenGestaltganzen.
Als Künstler gehe ich davon aus, daß sich seelische Problemeweitgehend als Form- und Gestaltprobleme fassen lassen. Wieprägnant ist eine Gestalt, wie gut und haltbar sind ihreKonturen, wie sieht ihre Binnenstruktur, wie die Ränder zumHintergrund hin aus, wie stark ist ihre Abgrenzung zuNachbargestalten, wie reagiert sie unter Druck, in welchenAbhängigkeiten steht sie und wie verleibt sie sich Fremdes ein?Diese Gestaltprobleme sind nicht nur für die Kunst und eineGestaltpsychologie wichtig, sondern für alle Kulturbereiche, indenen Seelisches am Werk ist, also für alles Tägliche.Das Gestaltproblem der Aneignung z.B., also die Frage, wie jemandsich etwas Fremdes einverleibt, regelt ja nicht nur dieNahrungsaufnahme, sondern auch die Möglichkeiten derInformation, die Spielarten der Kommunikation oder schlicht dieHaltung Zukünftigem gegenüber.Als Künstler gehe ich hin und schaue mir in denIkonographiebildenden Medien an, welche Formen der Einverleibungals lernfähig oder erwünscht angeboten werden, wie das formalimeinzelnen aussieht und welche thematischen Konsequenzen damitverbunden sind. Im Werbefernsehen lernen wir ja nicht nur dieProdukte und ihre Vorzüge kennen, sondern vor allem die Artenund Weisen, wie wir uns etwas einverleiben können.Meine Arbeit versteht sich als kritische Bestandsaufnahmedessen, was uns als moderne Ikonographie oder auchaußerschulische Pädagogik umwirbt und ich versuche, denherrschenden Regeln, Mustern und Themen auf die Spur zu kommen.Im augenblicklichen Zeitalter des Infantariats lernen wir nichtmehr, ein ganzes Schwein zu kaufen, ganze Hühner zu rupfen oderein Rind zu zerlegen, sondern sind schon an scheibchensweiseEinverleibungsformen gewöhnt. Celluphanierte Singleportionen mitHähnchenschenkel, Schokoriegel oder Kinderüberraschungseiersinddie heute gültigen, zeitgenössischen Formen, wie Wirklichesaufbereitet und präsentiert wird.
In meiner kunsttherapeutischen Trainingsarbeit gehe ich von solchenSelbstverständnisformen und Behandlungstechniken desSeelischen aus. Der Umgang mit Kochrezepten z.B. kann dieindividuellen, komplexen und sehr konkretenBehandlungsmöglichkeiten durch die Übersetzung in dieFremdsprache Kunst höchst transparent machen. Was ich mir koche,wenn ich alleine bin, kann Strategien und Tricks meinerSelbstbehandlung offenlegen, was ich wie anderen auftische,meine Behandlungswünsche- und Ängste im Umgang mit anderendokumentieren. Gerade die Formulierungen in einfachenBilderreihen sind im Gegensatz zu mündlichen Berichten in derLage, ein wirkliches Problem oder Thema herauszustellen, die Artseines Zusammenhangs zu zeigen, seine Konstruktion und Dynamikgriffig werden zu lassen. Die künstlerische Weiterverarbeitungvon Kinderüberraschungseiern entfaltet z.B. in allerDeutlichkeit, wie jemand mit kleinen Ganzheiten umgehen, sieaufbrechen oder aufreißen, die Angst vor den immanentenKonstruktionsschwierigkeiten aushalten, mit Resten umgehen undin der Gruppenarbeit "Familien" bilden kann.Die Kunst formuliert, entwickelt und entfaltet Auffassungen, wieein anschaulicher, plastischer Gestaltzusammenhang hergestelltund zugleich, wie er verstanden werden kann. Die Kunst kann vonsich aus weder heilen noch behandeln, mit Sicherheit aber einriesiges Repertoire an Möglichkeiten für ein Selbstverständnisund zur Selbstbehandlung bieten. Deshalb sollte Kunsttherapienicht so sehr auf die Materialvielfalt künstlerischer Technikenschielen oder versuchen, einzelne "Motive" zu deuten, sondernvorrangig auf den konzeptionellen Reichtum der Kunst setzen.

Hartmut Zänder, Köln 1992

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